Was bei einem Verhandlungsmarathon im Kopf vorgeht
Verhandlungsmarathon. Ein Drittel unseres Lebens verbringen wir im Zustand des Schlafs. Wenn es an diesem mangelt, kann es gefährlich werden, für den Körper wie den Geist. Dabei leiden neben der Konzentration das Gedächtnis und das logische und praktische
Der so klarsichtige Philosoph Immanuel Kant hatte auch fixe Ideen, etwa die, „dass jedem Menschen von Anbeginn her vom Verhängnisse seine Portion Schlaf zugemessen worden, und der, welcher zu seinen Lebzeiten in Mannsjahren zu viel (über ein Drittheil) dem Schlafen eingeräumt hat, sich nicht eine lange Zeit zu schlafen, d. i. zu leben und alt zu werden versprechen darf.“
Kant hielt sich daran und schlief kurz, er wurde 80. Ob die Aussicht auf ein längeres Leben aber Regierungsverhandler wie jetzt in Deutschland tröstet, deren Augenringe sich immer tiefer eingraben? Sie wissen schon, dass man sich mit zu wenig Schlaf bald „wie gerädert“fühlt, Folterer aller Zeiten wussten es auch, und Ratten sterben an Entzug von Schlaf rascher als an dem von Futter. Dabei ist nach wie vor nicht ganz klar, warum wir ein Drittel unsers Lebens in diesem Zustand verbringen. Den assoziiert man mit Ruhe, es ruht aber fast nichts: Herz und Lunge pumpen – gottlob! –, nur die Skelettmuskulatur erschlafft – auch gottlob, man würde im Bett herum springen! –, und die Sinne haben die Aufmerksamkeit gedämpft. Im Gegenzug wird ein Organ höchst aufgeregt, das Zentralorgan: Das Gehirn ist im Schlaf bzw. manchen Phasen so aktiv wie im Wachen.
Aber was tut es da? Dass man wichtige Entscheidungen am besten noch einmal überschläft, weiß die Menschheit immer schon, und Schlafforscher haben bestätigt, dass man im Schlaf lernt: Da wird der Tag noch einmal durchgegangen, wichtige Erinnerungen verfestigen sich, entbehrliche werden entsorgt. Das wird auch echter Müll – Stoffwechselprodukte aus den wachen Aktivitäten –, so wird das Gehirn wieder frei.
Strikte Limits für Lkw-Fahrer
Und wenn es das nicht wird? Übermüdung schwächt die Konzentration, deshalb gibt es dort, wo es um Leben und Tod geht – etwa bei der Arbeitszeit von Lkw-Fahrern – strikte Limitierungen. Für Private gelten die nicht, und weil Übermüdete sich oft frisch fühlen, verursachen sie einer Studie in den USA zufolge ein Fünftel aller Verkehrsunfälle: 17 bis 19 Stunden ohne Schlaf haben auf den Körper eine Wirkung wie 0,5 Promille Alkohol. Schlafmangel schlägt auch auf das Immunsystem durch, das sollten Dauerverhandler gerade in Zeiten bedenken, in denen die Grippe umgeht: Von Probanden in einem US-Schlaflabor, die mit Influenza-Viren infiziert wurden, erkrankten von denen, die mit weniger als sechs Stunden Schlaf pro Nacht auskommen mussten, 4,2 Mal so viele wie von denen, denen über sieben Stunden gegönnt wurden.
Das Gehirn wieder muss sich, wenn es erschöpft ist, mehr anstrengen, es erhöht die Aktivitäten im präfrontalen Kortex – dort sitzen das Arbeitsgedächtnis und das logische und praktische Denken –, offenbar will es die Verluste wettmachen. Und auch im Thalamus, der mit Aufmerksamkeit und Aufgewecktheit zu tun hat, wird kompensiert. Das alles zeigt sich verstärkt nach 24 Stunden ohne Schlaf, die halten die meisten durch, wenngleich die Befunde aus den Schlaflabors inkonsistent sind: In manchen Studien ließ die Geschwindigkeit des Denkens nach, nicht aber die Genauigkeit, in anderen war es umgekehrt.
Diese Unklarheiten haben Gründe in unterschiedlichen Designs der Studien, auch in den Testpersonen: Frauen etwa halten länger durch – zumindest in einem Test der verbalen Erinnerung nach 35 Stunden Schlaflosigkeit –, Männer erholen sich in Ruhephasen rascher. Überlagert wird das durch starke Unterschiede zwischen Individuen. Gemeinsam ist den Meisten nur, dass die Ermattung nicht wahrgenommen, sondern mit einer Überschätzung der eigenen Kräfte überdeckt wird.
Aber irgendwann kommt doch Ruhe. Oder nicht? Nicht nur Politiker finden immer weniger Schlaf, alle tun es. In den USA wurde in den 60er-Jahren acht bis neun Stunden geschlafen, heute sind es sieben. Ob sich das auf die Gehirne ausgewirkt hat, ist nicht bekannt, es gibt aber den starken Verdacht, dass die Epidemie der Schlaflosigkeit mit der der Fettleibigkeit einhergeht.
Frauen halten länger durch, Männer erholen sich in Ruhephasen rascher.