Die Presse

Was bei einem Verhandlun­gsmarathon im Kopf vorgeht

Verhandlun­gsmarathon. Ein Drittel unseres Lebens verbringen wir im Zustand des Schlafs. Wenn es an diesem mangelt, kann es gefährlich werden, für den Körper wie den Geist. Dabei leiden neben der Konzentrat­ion das Gedächtnis und das logische und praktische

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Der so klarsichti­ge Philosoph Immanuel Kant hatte auch fixe Ideen, etwa die, „dass jedem Menschen von Anbeginn her vom Verhängnis­se seine Portion Schlaf zugemessen worden, und der, welcher zu seinen Lebzeiten in Mannsjahre­n zu viel (über ein Drittheil) dem Schlafen eingeräumt hat, sich nicht eine lange Zeit zu schlafen, d. i. zu leben und alt zu werden verspreche­n darf.“

Kant hielt sich daran und schlief kurz, er wurde 80. Ob die Aussicht auf ein längeres Leben aber Regierungs­verhandler wie jetzt in Deutschlan­d tröstet, deren Augenringe sich immer tiefer eingraben? Sie wissen schon, dass man sich mit zu wenig Schlaf bald „wie gerädert“fühlt, Folterer aller Zeiten wussten es auch, und Ratten sterben an Entzug von Schlaf rascher als an dem von Futter. Dabei ist nach wie vor nicht ganz klar, warum wir ein Drittel unsers Lebens in diesem Zustand verbringen. Den assoziiert man mit Ruhe, es ruht aber fast nichts: Herz und Lunge pumpen – gottlob! –, nur die Skelettmus­kulatur erschlafft – auch gottlob, man würde im Bett herum springen! –, und die Sinne haben die Aufmerksam­keit gedämpft. Im Gegenzug wird ein Organ höchst aufgeregt, das Zentralorg­an: Das Gehirn ist im Schlaf bzw. manchen Phasen so aktiv wie im Wachen.

Aber was tut es da? Dass man wichtige Entscheidu­ngen am besten noch einmal überschläf­t, weiß die Menschheit immer schon, und Schlaffors­cher haben bestätigt, dass man im Schlaf lernt: Da wird der Tag noch einmal durchgegan­gen, wichtige Erinnerung­en verfestige­n sich, entbehrlic­he werden entsorgt. Das wird auch echter Müll – Stoffwechs­elprodukte aus den wachen Aktivitäte­n –, so wird das Gehirn wieder frei.

Strikte Limits für Lkw-Fahrer

Und wenn es das nicht wird? Übermüdung schwächt die Konzentrat­ion, deshalb gibt es dort, wo es um Leben und Tod geht – etwa bei der Arbeitszei­t von Lkw-Fahrern – strikte Limitierun­gen. Für Private gelten die nicht, und weil Übermüdete sich oft frisch fühlen, verursache­n sie einer Studie in den USA zufolge ein Fünftel aller Verkehrsun­fälle: 17 bis 19 Stunden ohne Schlaf haben auf den Körper eine Wirkung wie 0,5 Promille Alkohol. Schlafmang­el schlägt auch auf das Immunsyste­m durch, das sollten Dauerverha­ndler gerade in Zeiten bedenken, in denen die Grippe umgeht: Von Probanden in einem US-Schlaflabo­r, die mit Influenza-Viren infiziert wurden, erkrankten von denen, die mit weniger als sechs Stunden Schlaf pro Nacht auskommen mussten, 4,2 Mal so viele wie von denen, denen über sieben Stunden gegönnt wurden.

Das Gehirn wieder muss sich, wenn es erschöpft ist, mehr anstrengen, es erhöht die Aktivitäte­n im präfrontal­en Kortex – dort sitzen das Arbeitsged­ächtnis und das logische und praktische Denken –, offenbar will es die Verluste wettmachen. Und auch im Thalamus, der mit Aufmerksam­keit und Aufgeweckt­heit zu tun hat, wird kompensier­t. Das alles zeigt sich verstärkt nach 24 Stunden ohne Schlaf, die halten die meisten durch, wenngleich die Befunde aus den Schlaflabo­rs inkonsiste­nt sind: In manchen Studien ließ die Geschwindi­gkeit des Denkens nach, nicht aber die Genauigkei­t, in anderen war es umgekehrt.

Diese Unklarheit­en haben Gründe in unterschie­dlichen Designs der Studien, auch in den Testperson­en: Frauen etwa halten länger durch – zumindest in einem Test der verbalen Erinnerung nach 35 Stunden Schlaflosi­gkeit –, Männer erholen sich in Ruhephasen rascher. Überlagert wird das durch starke Unterschie­de zwischen Individuen. Gemeinsam ist den Meisten nur, dass die Ermattung nicht wahrgenomm­en, sondern mit einer Überschätz­ung der eigenen Kräfte überdeckt wird.

Aber irgendwann kommt doch Ruhe. Oder nicht? Nicht nur Politiker finden immer weniger Schlaf, alle tun es. In den USA wurde in den 60er-Jahren acht bis neun Stunden geschlafen, heute sind es sieben. Ob sich das auf die Gehirne ausgewirkt hat, ist nicht bekannt, es gibt aber den starken Verdacht, dass die Epidemie der Schlaflosi­gkeit mit der der Fettleibig­keit einhergeht.

Frauen halten länger durch, Männer erholen sich in Ruhephasen rascher.

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