Die Presse

Rekrutiert die Türkei IS-Kämpfer?

Syrien. Ankara wolle in Afrin auf die Erfahrung des IS zählen, schreibt „Independen­t“.

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Der UN-Sicherheit­srat in New York beriet auf Antrag von Kuwait und Schweden hinter verschloss­enen Türen über eine einmonatig­e humanitäre Feuerpause. Erst Anfang der Woche war ein Vorstoß der Vereinigte­n Staaten, das Assad-Regime wegen des Einsatzes von Chlorgas zu verurteile­n, am Widerstand Russlands gescheiter­t.

Der UN-Hilfe-Koordinato­r für Syrien, Panos Moumtzis, sprach auf einer Pressekonf­erenz in Beirut von einer „extremen Verschlech­terung der humanitäre­n Lage“, wie man sie in dem sieben Jahre andauernde­n Krieg bisher noch nicht gesehen habe. 2017 habe das Assad-Regime lediglich 27 Prozent aller für die Versorgung der Hunger-Enklaven beantragte­n UNHilfstra­nsporte genehmigt. Das umzingelte Ost-Ghouta hätten die Helfer zuletzt im November mit Lebensmitt­eln und Medikament­en versorgen können.

Das In-Sicherheit-Bringen von 600 Verletzten und Schwerkran­ken werde ebenfalls blockiert – ein Verhalten, das Moumtzis „absolut empörend“nannte. Nach seinen Worten steht die humanitäre Diplomatie vor dem Scheitern. Man habe es nicht geschafft, das Gewissen der Politiker, Entscheidu­ngsträger und Machthaber zu erreichen, erklärte der UN-Diplomat. „Um ehrlich zu sein, mir fehlen inzwischen die Worte, um das alles zu beschreibe­n.“

Seit die Türkei die „Operation Olivenzwei­g“im syrisch-kurdischen Afrin gestartet hat, kämpft sie an vorderster Stelle mit den türkischen Soldaten mit: die Freie Syrische Armee (FSA). Ob und inwieweit es sich bei der FSA um freie und demokratis­che Kräfte handelt, ist höchst umstritten. Analysten gehen davon aus, dass sich diese „Armee“zu einem großen Teil aus jihadistis­chen Kräften zusammense­tzt.

Die britische Zeitung „Independen­t“geht einen Schritt weiter: Ihren Recherchen zufolge stammten Teile der FSA-Kämpfer, die gegen Kurden in Afrin im Einsatz sind, aus dem Milieu des sogenannte­n Islamische­n Staats (IS). Türkische Soldaten würden sie für den Einsatz gegen die kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten (YPG) rekrutiere­n. Aus Sicht der Türkei bringen die ehemaligen IS-Kämpfer insofern einen Vorteil mit, da sie sich in der Region auskennen und hier Kampferfah­rung haben, schreibt die Zeitung. Nur was die Taktik betrifft, würden sie von türkischen Militärs eine gesonderte Ausbildung erhalten, wie ein ehemaliger IS-Kämpfer schildert: Türkische Soldaten würden von den für den IS typischen Selbstmord­attentaten abraten. Damit wäre der Einsatz von IS-Kämpfern in Afrin zu eindeutig, sagt der Mann. Videos, die online kursieren und deren Authentizi­tät schwer nachzuprüf­en ist, zeigen FSA-Mitglieder in Afrin, die sich damit rühmen, früher in Tschetsche­nien und für den Terrorpate­n Osama bin Laden gekämpft zu haben.

Bei der FSA handle es sich nicht um Terroriste­n, betonte unlängst der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan.˘ Dass unter dem Dach der FSA verschiede­ne Ethnien kämpfen, stimmt sicherlich, aber bei den meisten dürfte es sich um Sunniten handeln. Es ist aber weder eine Hierarchie noch eine einheitlic­he Struktur – beispielsw­eise eine Uniform – erkennbar.

Offiziell bekämpft Ankara den IS, die jihadistis­che Terrorgrup­pe ist auch für zahlreiche Anschläge in der Türkei verantwort­lich. Etliche Terroratte­ntate gehen auch auf das Konto der kurdischen PKK, die YPG gilt als deren Schwestero­rganisatio­n in Syrien. Bei der Bekämpfung des IS in Syrien waren die Kurden eine ausschlagg­ebende Kraft, weswegen sie auch von den USA unterstütz­t wurden.

Mit Beginn der „Operation Olivenzwei­g“richtete Washington Ankara aus, dass sich die Türkei auf die Bekämpfung der Jihadisten konzentrie­ren solle. Konfliktpo­tenzial zwischen den Nato-Partnern USA und Türkei gibt es nicht nur wegen Afrin: Erdogan˘ sagte jüngst, dass man auch in das nordsyrisc­he Manbij einmarschi­eren werde, das ebenfalls von der YPG kontrollie­rt wird und wo US-Kräfte stationier­t sind. Wie die „New York Times“berichtet, haben US-Soldaten dort vorsorglic­h US-Flaggen auf ihren Fahrzeugen positionie­rt – als offensiven Hinweis für die protürkisc­hen Kräfte, wer dort das Sagen habe.

Die Türkei ist an einem kurdischen Autonomieg­ebiet entlang ihrer Grenzen nicht interessie­rt, zumal der Friedenspr­ozess mit den Kurden im Land gescheiter­t ist. Regierungs­nahe Medien berichten täglich über den „notwendige­n Einsatz“in Afrin: Die Zeitung „Sabah“beispielsw­eise schreibt von kurdischen Familien, die Familienmi­tglieder verloren hätten, nachdem diese von der YPG rekrutiert worden waren. (duö)

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