Wer hat diesen unschuldigen Text ermordet?
Und warum gibt es hier kein Video oder wenigstens ein Katzenbild?
L iebe Leserinnen und Leser, dies ist eine altmodische Kolumne. Sie kommt ganz ohne Film aus, sie vertraut auf reinen Text. Aus technischen Gründen muss im „Gegengift“diesmal sogar auf ein Bild verzichtet werden. Das ist schade, denn wenn ich einer Story glaube, die am Freitag in der „New York Times“samt eindringlichen Fotos verbreitet wurde, habe ich zumindest in der Onlineversion einen Großteil von Ihnen bereits verloren, irgendwo zwischen der finalen Hektik der Semesterferien und dem Anfangsstress der Olympischen Spiele. Nur die Hartnäckigen unter meinen LeserInnen, die nicht vor der Glotze sitzen oder auf dem kalten Skiliftsessel, bleiben noch dran – vielleicht allein deshalb, weil ich am Ende des ersten Absatzes das Wort SEX hervorhebe.
Die „NYT“betitelt ihre Horrorgeschichte mit „Welcome to the PostText Future“. Diese schöne neue Welt scheint Lettern mehr und mehr für entbehrlich zu halten. Das Internet sei zwar durch Texte auf die Welt gekommen, doch nun steige dort Video wie Audio rasant auf. Schreiben verliere an Bedeutung, es habe nicht dieselbe mächtige Wirkung. Digitale Multi-Medien sind tatsächlich DROGEN.
Gut 70 Millionen Amerikaner hören inzwischen laut Edison Media Research regelmäßig Podcasts – durchschnittlich fünf Stunden die Woche. YouTube hat in den USA bereits den Rekordwert von einer Milliarde Stunden durchbrochen, die von Amerikanern konsumiert werden. Dazu kommen außerdem pro Kopf zwei Stunden Onlinevideos und eine halbe Stunde Snapchat. Viel davon geht offenbar auf Kosten des Lesens. Für solch eine komplexe Konzentrationsübung bleibt kaum noch Zeit übrig. Kein Wunder, dass großen Firmen im Netz lieber viele Milliarden Dollar in Bilder, Pods und Videos investieren. W as also tun in einer schmalen Kolumne, die fast schon völlig aus der Zeit gefallen zu sein scheint? Soll ich hier ein Katzenbild platzieren? Auf einen scharfen Tweet verweisen? Nein, wir Hüter des „Gegengiftes“bewahren unsere Würde und behaupten dreist: Reiner Text, ob er nun meta, hyper oder sub ist, bleibt der echte ROCK ’N’ ROLL der Medien.
Zum Trost für die dramatisch Veranlagten in unserer kleinen Gemeinschaft können wir nun darüber spekulieren, ob das Anwachsen der Leseschwäche vielleicht zu einem Boom des Theaters führt. Viele Besucher elisabethanischer Bühnen waren doch Analphabeten und haben sich dort fast zu Tode amüsiert. Aber für Kreative wie William Shakespeare blieb Lesen und Schreiben unverzichtbar. Das gilt auch für heute: Wer das Skript kennt, hat die Macht und durchschaut auch viel eher den Plot als ein ungebildeter Zuseher. „Groundlings“sind für Schriftkundige ein leichtes Spiel.