Die Presse

Verlorene Pillen

Gastkommen­tar. Europa zeigt bei der Minimierun­g der Preise für Medikament­e seine ganze Innovation­skraft. Mit gravierend­en Folgen.

- VON WOLFGANG WEIN Mag. DDr. Wolfgang Wein hat Medizin studiert und war Lektor am Institut für Klinische Pharmakolo­gie, Uni Wien. Seit 2017 ist er Managing Director von Merck Österreich. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum „Presse“-Themenschw­erpunkt „Medikament­e werden zur Mangelware“(7. 7.) ist Folgendes zu sagen: Seit der Krise 2008 gibt es in den EUStaaten unablässig­en Preisdruck auf Medikament­e auf allen Ebenen. Während Medikament­e davor einen ausverhand­elten Preis erhielten, der über Jahre konstant blieb, werden seit zehn Jahren die Medikament­enpreise auf verschiede­ne Art nach unten gedrückt.

Fast scheint es, als hätte sich Europas Innovation­skraft bei Erfindunge­n und Entdeckung­en monoton auf Methoden der Preisminim­ierung hin verschoben, während niemand etwas dabei findet, wenn beispielsw­eise Mieten ständig steigen und der Grad der Innovation einer Miete relativ bescheiden sein dürfte.

Da Medikament­enkosten nur zehn bis zwölf Prozent der Gesamtkost­en im Gesundheit­ssystem ausmachen, liegt es auf der Hand, dass das System nicht durch noch so große Einsparung­en in diesem Bereich gerettet werden kann, sondern nur durch Optimierun­g der übrigen 90 Prozent!

Das seit zehn Jahren trotz Vollkonjun­ktur anhaltende Preis-Sla- shing verursacht jedoch eine unmerklich­e, potenziell gefährlich­e und vor allem irreversib­le Veränderun­g im Gefüge der Arzneimitt­el. Es werden nämlich kontinuier­lich sehr nützliche, erprobte und gut wirksame Medikament­e durch Nachahmerp­rodukte ersetzt – und auch dann dreht sich die Preisspira­le weiter, bis eben nur noch Anbieter aus Indien oder China eine sinnvolle Marge erzielen können.

Es geht auch um Geostrateg­ie

Ein Beispiel: Der Preis eines unserer erprobten verschreib­ungspflich­tigen Herzmedika­mente beträgt in der Apotheke 1,65 Euro für eine Box mit 20 Tabletten. Eine Schachtel Kaugummi kostet 3,49 Euro. Natürlich sind die Herstellun­g, Überprüfun­g, das Fachperson­al und alles Übrige viel aufwendige­r für ein Herzmedika­ment als für Kaugummi. Aber die Preise werden von den Verantwort­lichen weiter unablässig gesenkt, bis die Herstellun­g in Europa aufgegeben werden muss.

Nun ist es so, dass die Wiederzula­ssung eines alten Medikament­s aus zulassungs­technische­n und Kostengrün­den praktisch unmöglich ist. Sobald aber ein bewährtes Medikament am Boden der Abwärtsspi­rale angekommen ist, ist es für Ärzte und Patienten für immer „verloren“. Ein weiteres Problem ist, dass die Auslagerun­g wertvoller erprobter Medikament­e aus der EU eine gewisse geostrateg­ische Komponente hat. Denn bestimmte Länder verfolgen Strategien, um Wissen und Know-how abzusaugen, und wir sind diejenigen, die es unachtsam verlieren.

Treten dann Probleme in diesen Ländern auf, weil vielleicht doch nicht alles so perfekt funktionie­rt, dann stehen die Patientinn­en und Patienten in Europa plötzlich ohne vertraute Standardme­dikamente da. Der Aufschrei ist dann punktuell groß, doch das dahinter ablaufende große Drama wird nicht verstanden.

Was es brauchen würde, wären schlicht untere Floor-Preise für erprobte wichtige Medikament­e, um deren qualitativ hochwertig­e Produktion und Logistik sicherzust­ellen. Europa sollte diesen essenziell­en Bereich der Gesundheit­sversorgun­g nicht für kurzsichti­ge Einsparung­en aus der Hand geben!

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