Frankreichs unverstandener liberaler Reformer
Nachruf. Der frühere französische Staatspräsident Valery´ Giscard d’Estaing ist im Alter von 94 Jahren an den Folgen von Covid-19 gestorben. Er hatte sich die Modernisierung Frankreichs vorgenommen, was aber nur teilweise gelang.
Paris. Am Ende der De-Gaulle-Ära und im Gefolge des Mai ’68 war er angetreten, um die französische Gesellschaft und Wirtschaft zu modernisieren. Viele setzten 1974 Hoffnungen in seine liberalen Zielsetzungen, doch ihre Umsetzung stieß dann doch auf hartnäckigen Widerstand. Letztlich blieb Valery´ Giscard d’Estaing bis zu seinem Tod unverstanden und trotz seiner Bemühungen um Volksnähe unpopulär. „Liberal“ist in Frankreich bis heute ein Schimpfwort geblieben.
Wie sein Vorbild Kennedy mit der Abkürzung JFK, so ließ auch er sich gern in den Medien VGE nennen. Das Kürzel behielt er wie ein politisches Markenzeichen bis zu seinem Tod. Mit 48 Jahren wurde Giscard 1974 der jüngste Staatschef der von Charles de Gaulle als Präsidialsystem eingerichteten Fünften Republik. Mit einer hauchdünnen Mehrheit von 50,81 gegen 49,19 Prozent der Stimmen hatte VGE in der Stichwahl den sozialistischen Herausforderer, Francois¸ Mitterrand, schlagen können.
Valery´ Giscard d’Estaing war 1926 in Koblenz im damals noch von französischen Truppen besetzten deutschen Rheinland als Sohn des Finanzdirektors der französischen Behörden auf die Welt gekommen. Später wuchs er in Paris auf, wo er im August 1944 als 18-jähriger Schüler an der Befreiung der Hauptstadt teilnahm.
Nach dem Kriegsende wurde er in der Verwaltungshochschule ENA ausgebildet. Wer aus dieser Kaderschmiede hervorgeht, hat in Frankreich bis heute eine steile Karriere vor sich, er gilt aber auch wie VGE sein Leben lang als „Technokrat“.
Aristokratisches Gehabe
Einmal im E´lyse´e-Palast, gehörte zu seinen ersten Reformen die Senkung der Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre. Doch das plakative Bild eines fortschrittlichen Präsidenten der jungen Generation wie auch seine innovative Dynamik begannen im politischen Alltag rasch Risse zu bekommen.
Das hing nicht nur mit politischen Problemen und Widerständen zusammen, sondern auch auch mit der Person von VGE, dessen Modernität und gespielte Bürgernähe zu sehr als Attitüde wirkten. Belächelt oder kritisiert wurde namentlich sein aristokratisches Gehabe. In Wirklichkeit war er gar kein „echter“Aristokrat. Die Giscards hatten 1922 das Recht, ihrem Familiennamen den Zusatz „d’Estaing“beizufügen, erkauft. Das stand nie im offiziellen Curriculum. Besonders populär waren im zutiefst republikanischen Frankreich solche Versuche, eine blaublütige Herkunft glauben zu machen, allerdings nicht.
Nachhaltig katastrophal für sein Image wirkte sich vor allem ein von der Satirezeitung „Le Canard enchaˆıne“´ 1979 enthülltes und kompromittierendes Diamantengeschenk des zentralafrikanischen Despoten Bokassa aus. Während seiner siebenjährigen Amtszeit von 1974 bis 1981 wurden immerhin mehrere wichtige Gesellschaftsreformen verwirklicht, die auch in seinem eigenen politischen Lager nicht immer befürwortet wurden: das Recht auf Scheidung im gegenseitigen Einvernehmen und namentlich die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in Frankreich. Als Konsequenz des weltweiten Erdölschocks stoppte VGE die nach dem Krieg lang geförderte wirtschaftliche Immigration in Frankreich.
Der Beginn der Massenarbeitslosigkeit und der Skandal um die Bokassa-Diamanten gaben der linken Opposition Auftrieb. 1981 gewann Mitterrand die Präsidentenwahl. Dass er die Wiederwahl nicht geschafft hatte, blieb für Giscard d’Estaing für den Rest seines Lebens eine Tragödie.
Für Frankreich war seine Niederlage gegen Mitterrand das Ende einer liberalen Modernisierung. In die Geschichte geht Giscard d’Estaing im Duo mit dem deutschen Kanzler Helmut Schmidt als überzeugter Europäer ein.