Warum die Börsen jubeln, wenn die Auftragsbücher leer sind
Wirtschaftsforscher Herwig W. Schneider warnt vor der trügerischen Euphorie auf den Kapitalmärkten.
Wien. Trotz zweier Lockdowns in vielen Industrieländern und eines massiven Konjunktureinbruchs entwickelten sich die meisten Börsenkurse während der Coronakrise außergewöhnlich positiv. Sie haben sogar – nach einem schweren, aber extrem kurzen Einbruch – zu neuen Höhenflügen angesetzt. „Die Investoren negieren somit nicht nur die geschmälerten Ertragschancen aufgrund der Coronakrise, sondern auch die schon vor der Krise festgestellten und durch die Krise verschärften wirtschaftlichen Ungleichgewichte und Risken“, sagt Herwig W. Schneider, der Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts.
Er hat für diese paradoxe Entwicklung nur eine rationale Erklärung. Es gebe für Investoren aufgrund der extrem niedrigen Zinsen keine Alternativen. Die hohen Aktienkurse seien deshalb auch keine „positiven Signale, sondern ein
Abbild des Verlustes der Ertragskraft und des Vertrauens in Zinsmärkte“. Schneider fürchtet, dass diese trügerische Euphorie auf den Kapitalmärkten in so manche Konjunkturumfrage einfließe und zu einem „weiterhin zu positiven Bild“führen könnte. Er verweist etwa auf den „Business and Consumer Survey“der EU. Dieser zeige einige interessante Details, betont er. Als einzige Branche liegt die Bauwirtschaft in ihrer Einschätzung über dem langjährigen Durchschnitt. Die meisten anderen Bereiche (Industrie, Konsumenten, Einzelhandel) weisen Einschätzungen auf, die einem normalen wirtschaftlichen Abschwung entsprechen. Nur der
Dienstleistungsbereich zeige erwartungsgemäß einen dramatischen Absturz der Einschätzung. Auffällig sei, dass die geringsten Rückgänge in der Industrie geortet wurden, meint Schneider. Ein Blick in die Auftragsbücher spreche allerdings eine andere, eine viel pessimistischere Sprache.
Tatsächlich haben die Börsen in den vergangenen Tagen eine Art Verschnaufpause eingelegt. Auch die weltweit erste Zulassung des Corona-Impfstoffs von Biontech und Pfizer in Großbritannien konnte Investoren zuletzt nicht mehr aus der Reserve locken. „Die mangelnde Reaktion des Markts deutet darauf hin, dass diese Entscheidung wahrscheinlich allgemein erwartet wurde, und vielleicht liegt die eigentliche Herausforderung jetzt in der Produktion und dem Tempo der Markteinführung der Zweifachimpfung“, sagte Anlagestratege Michael Hewson vom Brokerhaus CMC Markets am Mittwoch.
Trotz des Rücksetzers zeigten sich Marktteilnehmer zuversichtlich. „Ich glaube nicht, dass dies der Beginn einer Korrektur sein wird, da wahrscheinlich noch mehr positive Nachrichten zu Impfstoffen kommen werden“, sagte Marktökonomin Simona Gambarini von Capital Economics. Die Börsianer bleiben also weiterhin weit optimistischer, als es die Auftragsbücher der Unternehmen vermuten ließen.