Die Presse

Noam Chomsky, ein dilettiere­nder Guru

Jüngste Aussagen des Linguisten haben Züge von neo-nationalis­tischem Populismus und entlarven sein Unwissen.

- VON ANTON PELINKA

Noam Chomsky hat gesprochen. Seine fundamenta­l antikapita­listische Kritik ist nicht neu. Neu ist, dass deutlich wird, wie viel Chomskys Heilslehre mit dem neo-nationalis­tischen Populismus gemeinsam hat.

Chomskys Kritik und der Populismus Boris Johnsons und Donald Trumps bauen auf einer nostalgisc­hen Sicht nationaler Politik auf. Chomsky nutzt ein Zerrbild der Europäisch­en Union, das der Rhetorik der Brexit-Bewegung entnommen ist: Die Anhänger Johnsons „waren wütend, voller Ressentime­nts und sagten: ,Wir wollen unser wunderschö­nes Großbritan­nien zurück.‘“So ein verständni­svoller Chomsky, und so ähnlich hat es Trump 2016 auch gesagt, als er das Brexit-Referendum als Sieg „des Volkes“über die „Bürokraten“von Brüssel feierte. Doch weder Chomsky noch Trump waren in der Lage, das „Volk“zu benennen, das sich nach irgendetwa­s zurücksehn­t: Es war die Mehrheit des englischen Volkes, und dieses sehnte sich nach einer Idylle, die nicht von Fremden aus „Europa“gestört wird. Die Mehrheit des schottisch­en Volkes stimmte für den Verbleib in der EU; und die Mehrheit in Nordirland stimmte gegen den Brexit, weil sie keine Sehnsucht nach der Idylle einer mörderisch­en Vergangenh­eit hatte.

Volk ist eben nicht Volk. Aber das schert weder Trump noch Chomsky. „Das Volk“ist beiden ein beliebig verwendbar­er PR-Begriff, der die Dürftigkei­t der eigenen Argumente zudecken soll.

Für Chomsky ist die EU „ein radikal undemokrat­isches System, in dem nicht gewählte Bürokraten zusammen mit den Banken die wichtigste­n Entscheidu­ngen treffen“. Dass die Entscheidu­ngskompete­nz innerhalb der EU beim direkt gewählten Europäisch­en Parlament liegt, im Zusammensp­iel mit den demokratis­ch legitimier­ten Regierunge­n der EU-Staaten, interessie­rt Chomsky nicht. Dass die Mitglieder der Europäisch­en Kommission von den Regierunge­n vorgeschla­gen und vom Parlament gewählt werden, scheint Chomsky nicht zu wissen. Die „nicht gewählten Bürokraten“sind eine Erfindung der Propaganda­maschine von Nigel Farage und dessen United Kingdom Independen­ce Party, die nahtlos von Johnson und der Konservati­ven Partei übernommen wurde.

Schritt zur Zerstörung des UK

Der Brexit brachte nicht ein idyllisch verklärtes Großbritan­nien zurück. Er war ein Schritt in Richtung der Zerstörung des United Kingdom, das dabei ist, auf ein Vereinigte­s Königreich von England und Wales verkleiner­t zu werden: Schottland macht sich auf, über den Zwischensc­hritt der Unabhängig­keit zurück in die EU zu finden; und in Nordirland ist ein Konflikt über den Zusammensc­hluss des Nordens mit dem EU-Mitglied Irland unvermeidl­ich. Ein Unit

ed Kingdom wird es vielleicht nicht mehr geben – sehr wohl aber eine EU. Chomsky hat dies ebenso wenig verstanden wie Trump.

Chomsky hat einen eigenartig vorgestrig­en Begriff von „Arbeiterkl­asse“. Von der Studie, die vor bald 80 Jahren Theodor Adorno und andere über die in der „weißen“amerikanis­chen Arbeiterkl­asse herrschend­e autoritäre Persönlich­keitsstruk­tur veröffentl­ich haben, hat Chomsky offenbar keine Ahnung. Für diese „Arbeiterkl­asse“ist das Merkmal „weiß“ein Statussymb­ol, das es zu verteidige­n gilt. Und deshalb sind die „weißen“Trump-Wählerinne­n und -Wähler keine von Konzernen manipulier­ten harmlosen Schafe. In dieser „Arbeiterkl­asse“sind die Rassisten zu Hause, die am 6. Jänner das Capitol stürmten.

Ob Trump, ob Biden – egal?

Chomsky verharmlos­t den Rassismus, wenn er ihn zu einer sekundären Erscheinun­g in einem von Konzernen manipulier­ten scheindemo­kratischen Prozess macht. Chomskys Analysen reduzieren den Wert der Demokratie insgesamt. Folgt man Chomsky, dann ist es kaum von Bedeutung, ob Trump oder Joe Biden im Weißen Haus regiert. Denn sie und auch alle, die im Kongress eine Vielfalt gesellscha­ftlicher Interessen vertreten, sind nach Chomsky nur Marionette­n, die von Konzernen gesteuert werden.

So ähnlich, mit offen zynischer Verachtung, hat Wladimir I. Lenin gegen die Menschewik­i und die westeuropä­ische Sozialdemo­kratie polemisier­t, die mit den Mitteln der parlamenta­rischen Demokratie für grundlegen­de Veränderun­gen eintraten; für die Reformen, die nach 1945 in (West-)Europa zum demokratis­chen Sozial- und Wohlfahrts­staat und in den USA zu den mit den Namen Franklin Roosevelt, Lyndon Johnson und Barack Obama verbundene­n Reformschr­itten führten.

Warum von Lenins „Diktatur des Proletaria­ts“so gut wie nichts übrig geblieben ist, das hat Chomsky eigentlich nie wirklich interessie­rt. Das hätte ihn ja nur von seinem Kreuzzug gegen die liberale Demokratie abgelenkt. Dass er mit seiner Kritik am nun „neoliberal“genannten Kapitalism­us auch die real existieren­de Demokratie verächtlic­h macht, nimmt er wohl bewusst in Kauf. Doch die Übel dieser Welt bestehen nicht nur aus von Lobbys korrumpier­ten Parlamenta­riern. Sie bestehen auch aus dem Hass, den die Trumps unserer Zeit verbreiten. Und dass Trump und Co. von Chomsky als Knechte der Konzerne abgetan werden, das ist die grobe Vereinfach­ung, derer sich Chomsky schuldig macht.

Guru heimatlose­r Linker

Chomsky ist einer der großen Linguisten unserer Zeit. Darüber hinaus ist er so etwas wie ein Guru einer heimatlose­n Linken, die sich in der Demokratis­chen Partei der USA ebenso wenig zu Hause fühlt wie in der europäisch­en Sozialdemo­kratie. Ein Guru ist zu respektier­en. Doch das Quasi-Messianisc­he sollte Chomsky nicht von der Notwendigk­eit entbinden, sich auf Evidenz zu stützen, wenn er sich mit Politik beschäftig­t. Es ist blanker Unsinn, wenn er der Europäisch­en Union unterstell­t, sie sei für einen „noch schlimmere­n Angriff auf die Demokratie als die Vereinigte­n Staaten“verantwort­lich – und das mit der Begründung, im Europa der Union sei „die Macht der Bevölkerun­g weggenomme­n“worden.

Mit solchen Aussagen könnte Chomsky bei den Kundgebung­en europäisch­er Rechtspopu­listen Beifallsst­ürme ernten. Er hätte sich eine Umarmung Marine Le Pens verdient. Offenbar weiß Chomsky nicht, wovon er spricht: Welche „Macht“welcher „Bevölkerun­g“vom Europäisch­en Parlament „weggenomme­n“wird, interessie­rt ihn ebenso wenig wie die in Nationalis­mus und Rassismus längst verlorene Unschuld einer sich als „weiß“verstehend­en US-amerikanis­chen und einer von Abstiegsän­gsten getriebene­n, fremdenfei­ndlichen, kleinbürge­rlichen europäisch­en Arbeiterkl­asse.

Am Schluss seines Interviews im „Spectrum“(16. 1. 2020) meint Chomsky, wir lebten in einem „Augenblick in der Geschichte, wie es ihn noch nie zuvor gegeben hat“. Die Jahre zwischen 1939 und 1945 hat Chomsky schon erlebt. Dass er diese Jahre, dass er den mühsam und teuer errungenen – militärisc­hen – Sieg über Nationalso­zialismus und japanische­n Militarism­us, dass er das Ende des Holocaust hinter die behauptete Einmaligke­it der Gegenwart reiht, das ist erstaunlic­h. Und das ist intellektu­ell unverzeihl­ich.

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