Noam Chomsky, ein dilettierender Guru
Jüngste Aussagen des Linguisten haben Züge von neo-nationalistischem Populismus und entlarven sein Unwissen.
Noam Chomsky hat gesprochen. Seine fundamental antikapitalistische Kritik ist nicht neu. Neu ist, dass deutlich wird, wie viel Chomskys Heilslehre mit dem neo-nationalistischen Populismus gemeinsam hat.
Chomskys Kritik und der Populismus Boris Johnsons und Donald Trumps bauen auf einer nostalgischen Sicht nationaler Politik auf. Chomsky nutzt ein Zerrbild der Europäischen Union, das der Rhetorik der Brexit-Bewegung entnommen ist: Die Anhänger Johnsons „waren wütend, voller Ressentiments und sagten: ,Wir wollen unser wunderschönes Großbritannien zurück.‘“So ein verständnisvoller Chomsky, und so ähnlich hat es Trump 2016 auch gesagt, als er das Brexit-Referendum als Sieg „des Volkes“über die „Bürokraten“von Brüssel feierte. Doch weder Chomsky noch Trump waren in der Lage, das „Volk“zu benennen, das sich nach irgendetwas zurücksehnt: Es war die Mehrheit des englischen Volkes, und dieses sehnte sich nach einer Idylle, die nicht von Fremden aus „Europa“gestört wird. Die Mehrheit des schottischen Volkes stimmte für den Verbleib in der EU; und die Mehrheit in Nordirland stimmte gegen den Brexit, weil sie keine Sehnsucht nach der Idylle einer mörderischen Vergangenheit hatte.
Volk ist eben nicht Volk. Aber das schert weder Trump noch Chomsky. „Das Volk“ist beiden ein beliebig verwendbarer PR-Begriff, der die Dürftigkeit der eigenen Argumente zudecken soll.
Für Chomsky ist die EU „ein radikal undemokratisches System, in dem nicht gewählte Bürokraten zusammen mit den Banken die wichtigsten Entscheidungen treffen“. Dass die Entscheidungskompetenz innerhalb der EU beim direkt gewählten Europäischen Parlament liegt, im Zusammenspiel mit den demokratisch legitimierten Regierungen der EU-Staaten, interessiert Chomsky nicht. Dass die Mitglieder der Europäischen Kommission von den Regierungen vorgeschlagen und vom Parlament gewählt werden, scheint Chomsky nicht zu wissen. Die „nicht gewählten Bürokraten“sind eine Erfindung der Propagandamaschine von Nigel Farage und dessen United Kingdom Independence Party, die nahtlos von Johnson und der Konservativen Partei übernommen wurde.
Schritt zur Zerstörung des UK
Der Brexit brachte nicht ein idyllisch verklärtes Großbritannien zurück. Er war ein Schritt in Richtung der Zerstörung des United Kingdom, das dabei ist, auf ein Vereinigtes Königreich von England und Wales verkleinert zu werden: Schottland macht sich auf, über den Zwischenschritt der Unabhängigkeit zurück in die EU zu finden; und in Nordirland ist ein Konflikt über den Zusammenschluss des Nordens mit dem EU-Mitglied Irland unvermeidlich. Ein Unit
ed Kingdom wird es vielleicht nicht mehr geben – sehr wohl aber eine EU. Chomsky hat dies ebenso wenig verstanden wie Trump.
Chomsky hat einen eigenartig vorgestrigen Begriff von „Arbeiterklasse“. Von der Studie, die vor bald 80 Jahren Theodor Adorno und andere über die in der „weißen“amerikanischen Arbeiterklasse herrschende autoritäre Persönlichkeitsstruktur veröffentlich haben, hat Chomsky offenbar keine Ahnung. Für diese „Arbeiterklasse“ist das Merkmal „weiß“ein Statussymbol, das es zu verteidigen gilt. Und deshalb sind die „weißen“Trump-Wählerinnen und -Wähler keine von Konzernen manipulierten harmlosen Schafe. In dieser „Arbeiterklasse“sind die Rassisten zu Hause, die am 6. Jänner das Capitol stürmten.
Ob Trump, ob Biden – egal?
Chomsky verharmlost den Rassismus, wenn er ihn zu einer sekundären Erscheinung in einem von Konzernen manipulierten scheindemokratischen Prozess macht. Chomskys Analysen reduzieren den Wert der Demokratie insgesamt. Folgt man Chomsky, dann ist es kaum von Bedeutung, ob Trump oder Joe Biden im Weißen Haus regiert. Denn sie und auch alle, die im Kongress eine Vielfalt gesellschaftlicher Interessen vertreten, sind nach Chomsky nur Marionetten, die von Konzernen gesteuert werden.
So ähnlich, mit offen zynischer Verachtung, hat Wladimir I. Lenin gegen die Menschewiki und die westeuropäische Sozialdemokratie polemisiert, die mit den Mitteln der parlamentarischen Demokratie für grundlegende Veränderungen eintraten; für die Reformen, die nach 1945 in (West-)Europa zum demokratischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat und in den USA zu den mit den Namen Franklin Roosevelt, Lyndon Johnson und Barack Obama verbundenen Reformschritten führten.
Warum von Lenins „Diktatur des Proletariats“so gut wie nichts übrig geblieben ist, das hat Chomsky eigentlich nie wirklich interessiert. Das hätte ihn ja nur von seinem Kreuzzug gegen die liberale Demokratie abgelenkt. Dass er mit seiner Kritik am nun „neoliberal“genannten Kapitalismus auch die real existierende Demokratie verächtlich macht, nimmt er wohl bewusst in Kauf. Doch die Übel dieser Welt bestehen nicht nur aus von Lobbys korrumpierten Parlamentariern. Sie bestehen auch aus dem Hass, den die Trumps unserer Zeit verbreiten. Und dass Trump und Co. von Chomsky als Knechte der Konzerne abgetan werden, das ist die grobe Vereinfachung, derer sich Chomsky schuldig macht.
Guru heimatloser Linker
Chomsky ist einer der großen Linguisten unserer Zeit. Darüber hinaus ist er so etwas wie ein Guru einer heimatlosen Linken, die sich in der Demokratischen Partei der USA ebenso wenig zu Hause fühlt wie in der europäischen Sozialdemokratie. Ein Guru ist zu respektieren. Doch das Quasi-Messianische sollte Chomsky nicht von der Notwendigkeit entbinden, sich auf Evidenz zu stützen, wenn er sich mit Politik beschäftigt. Es ist blanker Unsinn, wenn er der Europäischen Union unterstellt, sie sei für einen „noch schlimmeren Angriff auf die Demokratie als die Vereinigten Staaten“verantwortlich – und das mit der Begründung, im Europa der Union sei „die Macht der Bevölkerung weggenommen“worden.
Mit solchen Aussagen könnte Chomsky bei den Kundgebungen europäischer Rechtspopulisten Beifallsstürme ernten. Er hätte sich eine Umarmung Marine Le Pens verdient. Offenbar weiß Chomsky nicht, wovon er spricht: Welche „Macht“welcher „Bevölkerung“vom Europäischen Parlament „weggenommen“wird, interessiert ihn ebenso wenig wie die in Nationalismus und Rassismus längst verlorene Unschuld einer sich als „weiß“verstehenden US-amerikanischen und einer von Abstiegsängsten getriebenen, fremdenfeindlichen, kleinbürgerlichen europäischen Arbeiterklasse.
Am Schluss seines Interviews im „Spectrum“(16. 1. 2020) meint Chomsky, wir lebten in einem „Augenblick in der Geschichte, wie es ihn noch nie zuvor gegeben hat“. Die Jahre zwischen 1939 und 1945 hat Chomsky schon erlebt. Dass er diese Jahre, dass er den mühsam und teuer errungenen – militärischen – Sieg über Nationalsozialismus und japanischen Militarismus, dass er das Ende des Holocaust hinter die behauptete Einmaligkeit der Gegenwart reiht, das ist erstaunlich. Und das ist intellektuell unverzeihlich.