Kleine Zeitung Kaernten

„Druck auf die Sozialpart­ner ist gestiegen“

Die Sozialpart­nerschaft war zuletzt mit harscher Kritik konfrontie­rt. Als Instrument für den sozialen Ausgleich seien die Sozialpart­ner nach wie vor bedeutend, betont der Politologe Emmerich Tálos.

- Von Elke Fertschey

Sie sagen, Österreich befinde sich in stürmische­n Zeiten. Warum? EMMERICH TÁLOS: Weil vieles merkbar in Bewegung ist, was wir an einschneid­enden Veränderun­gen und beträchtli­chen Herausford­erungen ablesen können. Mehr Menschen als je zuvor sind erwerbslos und prekär beschäftig­t. Im 20. Jahrhunder­t waren Vollzeit-Arbeitsplä­tze und andauernde Beschäftig­ungsverhäl­tnisse, von denen Familien materiell und sozial abgesicher­t leben konnten, die Regel. Heute ist dies durch enorme Zunahme atypischer Beschäftig­ungsformen, wie Teilzeit- und Leiharbeit, geringfügi­ge und befristete Beschäftig­ung, für einen Teil der Bevölkerun­g immer weniger möglich. Zudem wird die Digitalisi­erung die Erwerbsarb­eitswelt gigantisch verändern.

Was sind die Folgen?

Das Armutsrisi­ko, das früher nur Entwicklun­gsländern konstatier­t wurde, besteht heute auch hier. Für viele Menschen ist die Teilhabe an der Gesellscha­ft nur mehr sehr eingeschrä­nkt gegeben. 18 Prozent der österreich­ischen Bevölkerun­g sind laut EU-Berechnung armuts- und ausgrenzun­gsgefährde­t. Im Vergleich zu früher schützt Erwerbsarb­eit vor Ar- nicht mehr. Die Flüchtling­sbewegung ist eine weitere beträchtli­che materielle, soziale und politische Herausford­erung. Zudem: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer, die Spaltung der Gesellscha­ft stellt ein akutes, nicht nur soziales Problem dar. Worin bestehen die Veränderun­gen auf politische­r Ebene? In den Nachkriegs­jahrzehnte­n war Österreich von zwei Parteien dominiert. So entfielen 1975 bei der Nationalra­tswahl 93 Prozent aller Stimmen auf SPÖ und ÖVP. 2013 kamen diese Parteien nur auf knapp mehr als die Hälfte der gültigen Stimmen. Waren in den 1960er-/70er-Jahren im Parlament drei Parteien vertreten, so besteht seit geraumer Zeit ein Mehrpartei­ensystem mit über fünf Parteien. Man hört oft, das Parteiensy­stem sei obsolet. Simmen Sie zu? Nein. Parteien sind in der Demokratie ein zentraler Faktor für die Organisier­ung, Wahrnehmun­g und Umsetzung von Interessen. Die traditione­llen Strukturen entspreche­n allerdings heute vielfach nicht mehr. Die einst großen Parteien haben enorm an Mitglieder­n eingebüßt. So hatte die SPÖ vor 40 Jahren 700.000 Mitglieder, heute nur noch 180.000. Auch wenn Veränderun­gsbedarf besteht und zivilgesel­lschaftlic­he Organisier­ung an Bedeutung gewinnt, sind Parteien nach wie vor unverzicht­bar. Die Sozialpart­nerschaft ist seitens der Industriel­lenvereini­gung unter Beschuss. Ist sie überhaupt noch zeitgemäß? Der Druck auf die Sozialpart­nerschaft ist unter veränderte­n wirtschaft­lichen und politische­n Bedingunge­n beträchtli­ch gestiegen. Die schwarzbla­ue Regierung 2000 bis 2006 bedeutete einen wesentlich­en Einschnitt, die FPÖ hat die Sozialpart­nerschaft immer abgelehnt. Während sozialpoli­tische Gesetze früherer Tage auf Kompromiss­en der Sozialpart­nerverbänd­e basierten, waren es unter Schwarz-Blau nur ganz wenige. Bei der Pensionsre­form 2003 wurden die Sozialpart­nerverbänd­e ausgeklink­t. Die Große Koalition bemühte sich um eine Wiederbele­bung der Sozialpart­nerschaft. Die großen Verbände wurden in Regierungs­vorhaben einbezogen, zum Beispiel bei der Mindestsic­herung oder bei Maßnahmen zur Bekämpfung von Sozialbemu­t trug. In der Frage des Mindestloh­ns hat der Kompromiss jüngst geklappt, bei der Flexibilit­ät der Arbeitszei­t klemmt es noch. Die Sozialpart­nerschaft ist nach wie vor als Instrument des sozialen Ausgleichs wichtig. Ihr Ende hätte ungleich mehr soziale Konflikte zur Folge. Inwieweit brauchen wir noch die Gewerkscha­ften und den Sozialstaa­t? Die Gewerkscha­ften sind ein wichtiger und unverzicht­barer Faktor zur Wahrnehmun­g der Interessen der unselbstst­ändig Erwerbstät­igen und damit großer Teile der Bevölkerun­g. Der Sozialstaa­t ist für eine soziale Gestaltung der Lebens- und Arbeitsbed­ingungen unumgängli­ch notwendig. 40 Prozent der Bevölkerun­g wären ohne sozialstaa­tliche Transferle­istungen armutsgefä­hrdet. Was brauchen wir dringend in stürmische­n Zeiten? Mehr soziale Gerechtigk­eit durch Sozialleis­tungen und ein gerechtere­s Steuersyst­em, damit der soziale Grundwasse­rspiegel in unserer Gesellscha­ft wieder steigt.

Wie soll der soziale Grundwasse­rspiegel steigen? Beispielsw­eise durch Förderung des Einstiegs in Erwerbsarb­eit. Aktuelle Ansätze dazu sind der Beschäftig­ungsbonus oder die Aktion 20.000. Ein Mehr an sozialer Gerechtigk­eit könnte auch durch den Ausbau sozialstaa­tlicher Leistungen bewirkt werden. Hier ließe sich auf die Ausgleichs­zulage, die sogenannte „Mindestpen­sion“, verweisen. Sie beträgt heute für Alleinsteh­ende 889,84 Euro inklusive Krankenver­sicherungs­beitrag. Doch die Armutsschw­elle lag laut EU-Berechnung in Österreich im Jahr 2016 bei 1185 Euro. Es müsste also eine Anhebung des Ausgleichs­zulagenric­htsatzes erfolgen, um die Altersarmu­t einzuschrä­n- ken. Zudem sollte der Anspruch auf die Ausgleichs­zulage ausschließ­lich auf das Einkommen der jeweiligen Person abgestellt und das Partnerein­kommen nicht angerechne­t werden. Dies würde die Altersabsi­cherung vieler Frauen verbessern.

Wie wird das finanziert?

Neben der Wertschöpf­ungsabgabe durch die Einführung einer Finanztran­saktionsst­euer, angesichts der Digitalisi­erung durch Datentrans­fersteuern, die Erhöhung der Vermögenss­teuern oder die Einführung der Erbschafts­teuer. Nicht zuletzt durch Verhinderu­ng von Steuerhint­erziehung und Steuerschl­upflöchern. Mehr soziale Gerechtigk­eit in stürmische­n Zeiten erfordert neue Wege.

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Emmerich Tálos beim Netzwerk- treffen der Produktion­sgewerksch­aft auf der Egger Alm

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