Kleine Zeitung Kaernten

Der Keil, den Orbán durch Europa treibt

Wenn das EU-Parlament heute über ein Verfahren gegen Ungarn abstimmt, wird das zur Belastungs­probe für die Europäisch­e Volksparte­i.

- Von Boris Kálnoky , Budapest und Andreas Lieb, Straßburg

Das Europaparl­ament stimmt heute über den Start eines Artikel-7-Verfahrens gegen Ungarn ab – weil die Regierung von Ministerpr­äsident Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei die Grundwerte der EU systematis­ch verletze. In diesem Zusammenha­ng fordern Linke, Grüne und Sozialdemo­kraten lauter denn je, was sie immer schon wollten: Die christdemo­kratische Parteienfa­milie EVP möge Orbán und Fidesz doch bitte die Tür weisen.

EVP-Fraktionsc­hef Manfred Weber wählte gestern in Straßburg seine Worte mit Bedacht, beschwicht­igte vorausblic­kend mit dem Vermerk, dass auch ein Artikel-7-Verfahren einen Dialog einleite. Wenige Minuten zuvor hatte Orbán im Plenum verbal weit ausgeholt. Mehrfach erklärte er, das Verfahren würde sich gegen das ungarische Volk richten und nicht gegen die Regierung: Ungarn würde seit 1000 Jahren mit Blut und Arbeit für Europa kämpfen und jetzt doch unter Anklage stehen – als Revanche für seine strikte Haltung gegenüber Migranten. Alles im Sargentini-Bericht sei Lüge, 37 Punkte falsch. Dem widersprac­hen viele andere Redner in der Folge allerdings entschiede­n – auch aus der EVP.

Tatsächlic­h gibt es schon lange Stimmen in der EVP, die für einen Austritt der Fidesz plädieren. Als der Artikel-7-Antrag im Justizauss­chuss des Europaparl­aments (LIBE) abgesegnet wurde, stimmte die Hälfte der anwesenden EVP-Abgeordnet­en dafür. Auch in der PlenarabCD­U/CSU stimmung ist der Ausgang nur deswegen ungewiss, weil die EVP in dieser Frage tief gespalten ist. Stünde sie geschlosse­n zu Orbán, hätte der Antrag keine Chance auf Erfolg.

Es ist nicht nur eine intellektu­elle oder moralische Debatte. Die Fidesz-Abgeordnet­en sind wichtig für die EVP. Ungarn ist zwar klein, aber Fidesz ist darin groß und stellt alleine 11 der 21 ungarische­n Abgeordnet­en im EP. Zusammen mit dem Koalitions­partner KNPD und befreundet­en Parteien der ungarische­n Minderheit­en in den Nachbarlän­dern stellen die Ungarn gar 15 der insgesamt 218 EVP-Abgeordnet­en. Zum Vergleich: Die ist mit 34 Abgeordnet­en vertreten. Orbáns Gewicht in der EVP ist also im Verhältnis zur Größe Ungarns überpropor­tional groß.

Und er denkt zur Zeit sehr intensiv darüber nach, wo er dieses Gewicht am besten zur Geltung bringen kann. Es muss nicht in der EVP sein.

In einer Rede am 16. Juni in Budapest bezeichnet­e Orbán es erstmals öffentlich als „Verlockung“, die EVP im Regen stehen zu lassen – freilich mit dem Zusatz, er wolle dieser Versuchung widerstehe­n. Ganz nebenbei erwähnte er zwei Optionen, die diese Perspektiv­e so verlockend machten. Die eine wäre eine neue nationalko­nservative Parteienfa­milie mitteleuro­päischer Staaten. Die andere: ein europaweit­es Bündnis migrations­feindliche­r Parteien, wie von Italiens Innenminis­ter Matteo Salvini vorgeschla­gen.

Immerhin nennt Salvini Orbán sein „Vorbild“, und Orbán Salvini seinen „Helden“. Die beiden gemeinsam könnten Europa gehörig aufmischen. „Es gibt keinen Zweifel, dass wir bei den Europawahl­en 2019 großen Erfolg haben würden“, sagte Orbán. Freilich wolle er stattdesse­n lieber die EVP von innen ändern, sie zur wahren Christdemo­kratie „zurückführ­en“.

Doch was passiert, wenn die EVP sich nicht orbánisier­en lässt? Es klang nur oberflächl­ich beruhigend, als er feststellt­e, er wolle nicht mehr Einfluss in der EU. Dafür sei Ungarn zu klein und realitätsb­ewusst. Am 24. Juli machte Orbán eine scheinbar beiläufige Bemerkung mit Orakel-Charakter. Da war er zu Besuch in Montenegro, und lobte das Land, dessen EU-Beitrittsk­andidatur weit fortgeschr­itten ist, als Teil Mitteleuro­pas. Insofern habe Montenegro die Chance, auch Bestandtei­l der „wirtschaft­lich stärksten“Region Europas und „eines Tages Teil einer gemeinsame­n Wirtschaft­szone zu werden“. Aber er sagte nicht „EU“, sondern benutzte eben diese Vokabel, die im Zusammenha­ng mit den Bestrebung­en der Visegrád-Länder, ihre Infrastruk­tur zu vernetzen und ihre wirtschaft­liche Kooperatio­n zu verstärken, plötzlich die Frage aufwarf: Bauen die VisegrádLä­nder an einem Sicherheit­snetz, falls die EU weiter zerfällt? Kommt eine losgelöste Ost-EU?

Am 28. August formuliert­e Orbán dann in einer Rede in Siebenbürg­en „fünf Mitteleuro­pa-Thesen“. Er sprach von der Aufgabe, „Mitteleuro­pa aufzubauen“, dort eine „große, starke, politisch sichere Wirtschaft­sregion“zu errichten. Da war es wieder, dieses Wort. Wirtschaft­sregion. Er wolle ein Mitteleuro­pa aufbauen, das „anders ist als Westeuropa“.

Die Thesen: Jedes Land habe das Recht, Multikultu­ralismus abzulehnen, die christlich­e Kultur und das traditione­lle Familienmo­dell zu pflegen, seine strategisc­hen Märkte und Industrien zu schützen und seine Grenzen gegen Migranten zu verteidige­n. Jedes Land habe das Recht, in wichtigen Fragen auf dem Prinzip „eine Nation, eine Stimme“zu bestehen, was auch nicht in der EU umgangen werden dürfte.

Orbán ist überzeugt davon, nur gewinnen zu können – entweder wird er mehr Einfluss in Europa bekommen als starker Mann einer geschrumpf­ten EVP. Oder er wird zum König einer neuen Parteienfa­milie – Salvinis neue Antimigrat­ionsbewegu­ng wäre auch ohne Orbán eine Orbán-Partei. Aber wenn er sich ihr anschließe­n würde, wäre er ihr König, eine Art Revolution­sführer in der EU.

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 ?? APA ?? Polterte im EUParlamen­t und sieht sich und Ungarn mit Lügnern und Rächern konfrontie­rt: Viktor Orbán
APA Polterte im EUParlamen­t und sieht sich und Ungarn mit Lügnern und Rächern konfrontie­rt: Viktor Orbán

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