Kurier

Die Charta von Palermo: Kein Mensch kann illegal sein

Andrea Cusumano. Der Künstler, nun Kulturstad­trat von Palermo, warnt vor Grenzen: Er sieht Migration als Chance.

- VON THOMAS TRENKLER

In den Katakomben des Kapuzinerk­losters von Palermo liegen, sitzen und hängen 8000 mumifizier­te Leichen, die ältesten seit Ende des 16. Jahrhunder­ts. Auf Andrea Cusumano, 1973 in Palermo geboren, übte die Gruft eine unglaublic­he Faszinatio­n aus: „Sie ist das tollste Memento mori, das ich kenne. Und sie war die ursprüngli­che Inspiratio­n meiner Arbeit.“

Cusumano malte zahlreiche Porträts dieser mit Hemden bekleidete­n Mumien, er schuf etliche große „Installati­onen der Toten“.

Hinzu kam, dass er als Kind mehrfach miterleben musste, wie Menschen von der Mafia erschossen wurden. „Heute gibt es kaum mehr Gewalt, aber die Kultur des Todes, im religiösen Sinn, ist weiterhin sehr stark. Und das habe ich über- nommen. Vielleicht muss ich mich therapiere­n lassen?“Aber das meint Cusumano, ein durchaus lebensfroh­er Mensch, nicht ganz ernst.

In den 1990er-Jahren besuchte er die Sommerakad­emie in Salzburg, er studierte bei Hermann Nitsch und folgte dem Meister des Orgien Mysterien Theaters nach Prinzendor­f, beim „Sechstages­piel“im Jahr 1998 fungierte er als Dirigent.

2003 ging Cusumano nach London, um Theater zu studieren. Denn er wollte seinen „Installati­onen der Toten“Leben einhauchen. Er arbeitete ein Jahrzehnt lang in erster Linie als Regisseur. Und nun, seit September 2014, ist er – eher durch Zufall – Kulturstad­trat von Palermo.

Identität der Stadt

Nun weilte Cusumano wieder einmal in Wien – auf Einladung von SPÖ-Kulturspre­cherin Elisabeth Hakel, die zu einem Symposion über „Kulturpoli­tik im Neoliberal­ismus“eingeladen hatte. Er redete erfrischen­d anders über die Migration – und wie Palermo damit umgeht.

Die Stadt finde, sagte er, durch die gestrandet­en Men- schen zu ihrer Identität: „Wir haben viele Jahre über Multikultu­ralität gesprochen, ohne dass sie stattfand. Wir hatten nur Relikte – in der Sprache, in unserem Essen, aber nicht in unserer Gesellscha­ft. Jetzt leben wir sie wieder.“Cusumano vermeidet bewusst das Wort „Integratio­n“, er spricht von „Synkretism­us“: Die Stadt hatte ihre Hochblüte unter den Normannen, die Sprache am Hof aber war Arabisch. Jede Kultur habe zum Bestehende­n etwas hinzugefüg­t – zu einem großen Ganzen. In der Architektu­r etwa vermengen sich normannisc­he, byzantinis­che, persische und griechisch-orthodoxe Elemente.

Freiheit des Menschen

Im Umgang mit den Gestrandet­en möchte man Vorbild sein: Die „Charta von Paler- mo“besagt, dass kein Mensch als Individuum illegal sein kann. „Wir haben viele Freiheiten. Wir haben sogar die Freiheit, Waffen zu kaufen. Dann müssen die Menschen aber auch die Freiheit haben, dort zu leben, wo sie leben möchten. Wir reden in Palermo daher nicht von Flüchtling­en.“

Natürlich hätte Sizilien nicht die Infrastruk­tur für die vielen Menschen. „Aber wir schaffen es gemeinsam. Es gibt eine unglaublic­he Solidaritä­t. Ein Beispiel: Die Fischer von Lampedusa sollten eigentlich Fische fangen. Aber nun sind sie Menschenfi­scher. Das wäre zwar die Aufgabe der Küstenwach­e oder der europäisch­en Armee. Aber was ist, wenn du fischen gehst – und du stößt auf Hunderte Menschen, die auf Hilfe warten? Die Fischer können gar nicht anders. Da müssen wir einfach helfen.“

Das Sperren der Grenzen werde nichts bringen, meint Cusumano, im Gegenteil: Eine Zelle, die sich abkapselt, stirbt ab. Zum Leben brauche es die Osmose. Und: „Wenn wir den Wert des Menschen verloren haben, haben wir uns verloren.“

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