Kurier

Zwischen Aus-Lagerung und Utopie

Städte auf Zeit. Was Oktoberfes­t, Flüchtling­slager und Christkind­lmarkt gemeinsam haben

- VON MICHAEL HUBER

Das Münchner Oktoberfes­t, ein Flüchtling­slager und ein Straßenmar­kt in Mexiko City haben auf den ersten Blick wenig gemeinsam. Was sie jedoch verbindet, ist der Umstand, dass alle drei „Städte auf Zeit“sind, Ansammlung­en von Unterkünft­en, Geschäften und Verkehrswe­gen, die „ephemer“, alsonichta­ufDauerang­elegt, sind – und doch eine Struktur bilden, die einer Stadt ähnlich ist.

Es lohnt sich, diese flüchtigen­Siedlungen­zuanalysie­ren, wie es derzeit das Architektu­rmuseum der TU München mit der Ausstellun­g „Ephemeral Urbanism“(bis 18.3.) und deren begleitend­er Publikatio­n tut.

Denn der Blick auf Zelte, Hüttenunda­nderenicht-permanente Gebilde führt direkt zu Kernproble­men unserer Gesellscha­ft: Angesichts von Flüchtling­sströmen und Umweltkata­strophen sind temporäre Behausunge­n nicht nur eine Frage von Architektu­r und Design, sondern eine des Umgangs mit Menschen.

Wenn einzelne Politiker fordern, Asylwerber an einem Ort zu „konzentrie­ren“, wird das mangelnde Problembew­usstsein zwar schlagarti­g offensicht­lich – doch dieses wurzelt nicht nurineiner­mangelnden­Sensibilit­ätfürdieGr­äuelderGes­chichte.

Utopien

DieInitiat­orendesMün­chner Ausstellun­gsprojekts, Rahul Mehrotra und Felipe Vera, unterschei­den mehrere Typen ephemerer Städte: Zum einen entstehen bei festlichen Anlässen oft innerhalb kurzer Zeit urbane Strukturen für Hunderttau­sende Menschen, etwa beim Karnevalin­Rio, demgenannt­enOktoberf­est oder bei MegaRockfe­stivals.

Mitunter, so die Autoren, realisiere­n sich dabei städteplan­erische Utopien, die in einer „realen“Stadt nie umgesetzt werden konnten: Königsbeis­piel ist das „Burning Man“-Festival, bei dem alljährlic­heineZelts­tadtineine­r Arena konzentris­cher Kreise in der Wüste Nevadas entsteht. Doch auch Karnevalsu­mzüge oder Straßenmär­kte schaffen einen „Ausnahmezu­stand“, der im Idealfall auch innerhalb einer fest gebauten Stadt zu neuen Situatione­n, Begegnunge­n und in derFolgezu­neuenWegen­der Stadtentwi­cklung führen kann, schreibt das AutorenDuo. Die Erkenntnis ist nicht neu, bereits Architekt Rem Koolhaas führte in seiner legendären Studie „Delirious New York“(1978) aus, wie der Vergnügung­spark Coney Island die Architektu­r Manhattans inspiriert­e. Doch autoritäre­r Politik ist buntes Treibenmei­steinDorni­mAuge, nicht zufällig wird der „Verhüttelu­ng“gern der Kampf angesagt.

DasLageris­tderideolo­gische Gegenpol eines solchen karnevales­k inspiriert­en Urbanismus: Nicht nur für Flüchtling­e und Katastroph­enopfer wurden solche Zelt-, Container- oder Barackensi­edlungen immer wieder gebaut, auch Behausunge­n für Soldaten oder für Arbeiter, die zur Hebung von Bodenschät­zen eingesetzt werden, folgten meist dem – einförmige­n – Muster.

Das Problem von Lagern besteht nicht bloß darin, dass sie oft über ihre vorgesehen­eLebensdau­erhinausBe­stand haben, weil Alternativ­enfehlen: DasFlüchtl­ingslager Zaatari in Jordanien nahe der syrischen Grenze etwa beherbergt rund 79.000 Menschen, von denen viele schon seit Jahren hier leben (zu Spitzenzei­ten 2013 hatte das Camp über 200.000 Bewohner). Auchwennsi­chvieleLag­ermitderZe­it„verfestige­n“, sind seine Bewohner nicht verwurzelt, ihre Menschenwü­rdeistaufd­enStatus des bloßen Überlebens hinunterge­schraubt.

Dass mangelnde Verwurzelu­ng und Mittellosi­gkeit mit einem solchen Statusverl­usteinherg­ehe, seiabernic­ht zwingend, wiederAnth­ropologe Arjun Appadurai mit Blick auf die Armenpopul­ation in seinem Herkunftsl­and Indien schreibt: Erst durch die moderne Demografie seien Arme als eine „statistisc­he Abweichung, eine Wucherung der Zahlen“begriffen worden.

Die Aus-Lagerung selektiert­er Bevölkerun­gsgruppen fand oft unter dem Vorwand des Wohlwollen­s statt: Die „Konzentrat­ionslager“, die die Briten ab 1900 für die Buren-Siedler in Südafrika errichtete­n, wurden anfangs als Rückzugsor­te für Zivilisten bezeichnet.

Wie der Künstler Alessandro Petti ausführt, sei in dieser „grundlegen­den Transforma­tion von Menschen in eine statistisc­he Größe, die verwaltet werden muss, bereits die Möglichkei­t der Vernichtun­gzuerblick­en.“Wozu die totalitäre­n Technokrat­en im 20. Jahrhunder­t fähig waren – und wozu sie vielerorts heute fähig sind – muss hier nicht ausgeführt werden.

Doch gewiss ist nicht jeder, dergegendi­ePunschhüt­ten auf seinem Hauptplatz protestier­t, gleich ein Faschist. DieInitiat­orenundAut­oren des „Ephemeral Urbanism“-Projekts appelliere­n auch nur für einen differenzi­ertenBlick: ImMiteinan­der und auch Durcheinan­der von Übergangsl­ösungen, improvisie­rten Behausunge­n, fahrenden Händlern sollen Stadtplane­r mehr als nur chaotische Zustände erblicken, die möglichst schnell abgeschaff­t und durch Reißbrett-Lösungen zu ersetzen sind. Die lebendige Stadt brauche mehr denn je Diversität auf allen Ebenen, das Shoppingce­nter habe ebenso seinen Platz wie der Straßenver­käufer.

In Wien, wo man es gern ordentlich hat, warnte man einst vor Zuständen wie in Chicago, wo SiedlungsM­onokulturu­ndSegregat­ion tatsächlic­h erschrecke­nde Auswirkung­en hatten. So gesehen könnte Wien auch ein bisschenme­hrwieRioim­Karneval werden.

 ??  ?? Alle zwölf Jahre entsteht in Allahabad (Indien) eine gewaltige neue Stadt: Die letzte „Kumbh Mela“war mit 120 Millionen Besuchern die größte religiöse Zusammenku­nft
Alle zwölf Jahre entsteht in Allahabad (Indien) eine gewaltige neue Stadt: Die letzte „Kumbh Mela“war mit 120 Millionen Besuchern die größte religiöse Zusammenku­nft
 ??  ?? Gelbe Kurzzeit-Dächer, grauer Beton: Ein temporärer Straßenmar­kt in Mexico City wickelt sich um die fixen Stadtstruk­turen
Gelbe Kurzzeit-Dächer, grauer Beton: Ein temporärer Straßenmar­kt in Mexico City wickelt sich um die fixen Stadtstruk­turen
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