Mädchen wollen Autos und Buben Puppen
Pädagogik ganz ohne Geschlechterklischees in einem Wiener Kindergarten
Die Puppenecke den Mädchen, die Bauecke den Buben; was bei vielen Menschen Erinnerungen an die eigene Kindergartenzeit weckt, ist im städtischen Kindergarten in der Dadlergasse im 16. Wiener Gemeindebezirk längst passé.
Statt nach Geschlechtern getrennten Spielbereichen finden sich hier Bauklötze, Autos oder KinderküchenGeschirr in Rollcontainern und können von den Kindern nach Belieben im Raum verteilt werden. Die Wände sind pastellgelb und weiß gestrichen, auf dem grauen Boden sind kreisrunde Teppiche in Orange aufgelegt. Auf das typische Blau für Buben und Rosa für Mädchen wurde bewusst verzichtet – denn in der Dadlergasse liegt der Fokus seit rund vier Jahren auf geschlechtssensibler Pädagogik. Bedeutet, dass geltende Rollenbilder und Stereotype für Männer und Frauen in der täglichen Arbeit mit den Kindern hinterfragt und aufgebrochen werden.
Wesentlicher Teil des Konzepts ist die offene Raumgestaltung, erklärt Ilse Appel, Leiterin des Kindergartens. Während ein Bub mit einem Spielzeugföhn in der Hand herumfuchtelt, ist einen Meter von ihm entfernt ein GrüppchenausMädchenund Buben ins Legobauen vertieft. Ein paar Schritte weiter veranstalten zwei Mädchen ein Picknick; ein Bub kommt mehrmals mit einem Papierflieger angelaufen, schnappt sich ein Stück Holzgemüse aus den Picknicktöpfen, verlädt dieses in seinem Flieger und zischt wieder ab. Eine Situation, die bei abgetrennten Spielbereichen ein großes Konfliktpotenzial bergen würde, sagt Appel. Der Bub würde dann in den Bereich der Mädchen eindringen und es würde Streit drohen. Seit der Umgestaltung des Kindergartens seien derartige Zwistigkeiten zur Seltenheit geworden.
Gleichstellung
Ziel des geschlechtersensiblen Konzepts sei nicht vorrangig, den Buben Puppen und den Mädchen die Werkzeugkiste schmackhaft zu machen.
Viel eher geht es darum, „jungen Menschen den Freiraum zu geben, etwas auszuprobieren und sich selbst zu entdecken“, sagt Appel. Immer unter der Prämisse, dass kein Geschlecht bevorzugt wird, also für alle die gleichen Möglichkeiten geschaffen werden. Zum Beispiel habe man beobachtet, dass sich die Buben im Garten immer sofort auf die Fahrzeuge stürzen. Als Gegenmaßnahme dürfen die Mädchen nun ein- mal pro Woche eine Viertelstunde früher rausgehen.
Das pädagogische Personal sei zudem im bewussten Umgang mit Sprache geschult. Es werden immer beide Geschlechter genannt und die Kinder möglichst nicht auf ihr Äußeres angesprochen. „Statt einem Mädchen bei der Begrüßung zu sagen, dass es ein schönes Kleid anhat, kann man die Frage stellen, ob es gut geschlafen hat“, sagt Appel.
In Wien ist gendersensible Pädagogik mittlerweile in allen städtischen Kindergärten Teil der Bildungsarbeit, wenn auch in stark variierendem Ausmaß. Neben einem geschlechtsneutralen Raumkonzept und der dementsprechenden Haltung des Personals braucht es dafür männliche Pädagogen. Sie sind in Erziehungseinrichtungen noch immer stark unterrepräsentiert.
Männlichkeitsbilder
In der Dadlergasse ist ihr Anteil mit einem Drittel überdurchschnittlich hoch. Einer von ihnen ist der 28-jährige Oliver. Wenn er den Puppenwagen schiebt oder mit den Kindern Kaufmannsladen spielt, lebt er ihnen etwas vor, „das viele von zu Hause nicht kennen“.
Wobei der Kindergarten auch hier anzusetzen versucht. Zweimal im Jahr werden ausschließlich die Väter zu Aktivitäten mit ihren Kindern eingeladen. Besonders beliebt ist das vorweihnachtliche Keksebacken. „Wir habenselbstnichtdamitgerechnet, aber plötzlich sind 40 Väter in der Küche gestanden und waren voller Eifer bei der Sache“, erzählt Appel. Zwar wird im Kindergarten Wert auf geschlechtsneutrale Angebote, Sprache und Materialiengelegt–zumBeispiel in Form eines Memorys, das unter anderem Feuerwehrfrauen und Krankenpfleger abbildet. Es sei aber kein Problem, wenn ein Mädchen mal eine Barbie von zu Hause mitbringt. „Mit großer Wahrscheinlichkeit spielen dann halt auch die Buben damit“, sagt Appel und lacht.
Eine komplett geschlechterneutrale Erziehung ist nicht leicht umzusetzen, weil viele Unterschiede im Verhalten gegenüber Kindern unbewusst passieren. Beim vermeintlichen Mädchen sind die Erwachsenen viel vorsichtiger, weil sie das Kind als zarter wahrnehmen, und bieten eher eine Puppe an als einen Ball. Mit einem Jahr bevorzugen sowohl Buben als auch Mädchen Puppen gegenüber Autos. Mit 18 Monaten ändert sich die Präferenz der Buben – das spricht gegen biologische Veranlagung und für den Einfluss von Erziehung und Sozialisation. Diese Einflüsse können Eltern kaum verhindern. Ich empfehle, entspannt zu bleiben, denn wenn sich ein Mädchen ein Glitzerröckchen wünscht, ist das ja in Ordnung; genauso, wie wenn es ein Bub anziehen möchte. Kinder sollten Spielraum haben, ihre Vorlieben zu entwickeln.
Was halten Sie von Gender Creative Parenting, bei dem Eltern das Geschlecht geheim halten?
Das ist vermutlich gar keine schlechte Idee. Studien mit Babys, die willkürlich als Buben oder Mädchen deklariert und entsprechend behandelt wurden, sprechen für frühe Sozialisationsfaktoren. Diese könnte man so ein Stück weit aushebeln. Ich stelle es mir nur mühsam vor, da man sich sicher permanent rechtfertigen muss. Wenn das mehr Eltern machen, wächst aber sicher die Akzeptanz dafür.