Nach Österreich
Das Kriegsende brachte neue Hoffnung, doch für viele begann ein Martyrium, das eine Völkerwanderung auslöste. In diesem Treibgut von Menschen waren Kinder wie Karl Heinz Ritschel und seine spätere Frau.
„Entlaust“ist links oben in Lila auf den Transportschein gestempelt. Das Erste und Wichtigste, was den Flüchtlingen außerhalb der Tschechoslowakei widerfuhr, war offenbar das Entlausen. „Wir sind von oben bis unten mit DDT eingestaubt worden. In jede Öffnung wurde das Insektengift gesprüht“, erzählt Karl Heinz Ritschel, der als 16-Jähriger damals auf der Flucht war.
DDT steht für Dichlordiphenyltrichlorethan. Dieses überaus wirksame Insektengift ist seit den 1970er-Jahren verboten. Doch ab 1939 – nachdem der Schweizer Paul Hermann Müller die tödliche Wirkung vor allem für Insekten erkannt hatte, wofür er 1948 den Nobelpreis für Medizin erhalten sollte – wurde dieses Nervengift gegen allerlei Schädlinge wie Kartoffelkäfer und lästiges Kleingetier wie Läuse eingesetzt – so auch bei gar nicht sauberen Flüchtlingen.
Diese Menschen reisten nicht, sondern wurden transportiert: in einem Viehwaggon, „auf Stroh und ein paar Decken kauernd“, wie Karl Heinz Ritschel, der spätere Chefredakteur der „Salzburger Nachrichten“, nun erzählt. Der Transport für die Ritschels hatte die Nummer 192 und dauerte zwei Wochen. Sie erreichten ein fremdes Land und die Heimatlosigkeit: An der Grenze hatten sie nicht nur die Läuse los, sie waren auch staatenlos. Ihre einstige Heimat hatte ihnen die Staatsbürgerschaft aberkannt, sie enteignet und des Landes verwiesen.
Der Zweite Weltkrieg war im Mai 1945 zu Ende. Der Friede, die Erlösung vom Bombenkrieg, das Ende vom Sterben, das Warten auf Heimkehrer und die Zuversicht, nun werde alles besser, wurde Millionen von Europäern nicht zuteil. Für sie begannen vor und nach dem Kriegsende erst die Schikanen, dann die Martyrien der Vertreibung. Über zwölf Millionen dieser sogenannten Heimatvertriebenen – Deutschsprachige in Polen, der Tschechoslowakei, Slowenien und Russland – strandeten in Deutschland und Österreich, viele starben auf dem Weg oder sogar davor, so wie Karl Heinz Ritschels Großmütter. Von der Mutter seines Vaters erzählt er: „Sie war damals (1946, Anm.) über 70 Jahre alt, aber gesund und kräftig. Sie ist dann in Ostdeutschland verhungert.“Als seine Großmutter mütterlicherseits in Ossegg im Erzgebirge aufgefordert wurde, in jenen Wagen für zu Vertreibende einzusteigen, der soeben vorgefahren war, passierte Folgendes: Sie „brachte das Bündel zum Wagen und sagte, sie müsse noch einmal ins Haus. Als sie nicht wiederkam, sahen die tschechischen Soldaten nach ihr: Sie hatte sich erhängt“.
Mit dabei auf dieser immensen europäischen Völkerwanderung waren viele Kinder und Jugendliche, die nach dem Krieg wie Treibgut über den Kontinent bewegt wurden. Weil einige der damaligen Kinder heute noch davon erzählen können, ist die deutsche Schriftstellerin Barbara Warning einer Aufforderung gefolgt: „Wir sind die Letzten. Fragt uns aus“, schrieb der deutsche Schriftsteller Hans Sahl (1902–1993) in einem Gedicht. Rund zwanzig Zeitzeugen hat sie ausgefragt und deren Erzählungen nun im Buch „Kindheit in Trümmern“wiedergegeben.
Zwei davon sind Karl Heinz und Gina Ritschel. Er wurde im Juni 1946 aus Komotau in Böhmen (heute Chomutov im Nordwesten Tschechiens) vertrieben; sie floh 1941 aus der Gottschee, einer einstigen deutschen Sprachinsel im heutigen Slowenien. Beide landeten als Flüchtlinge in Österreich.
Sie heirateten 1959 – damals kam Karl Heinz Ritschel auch zu den „Salzburger Nachrichten“– und leben seither in Salzburg.
Gina Ritschel stammt aus Rieg in der Gottschee. Nachdem die deutsche Wehrmacht in Jugoslawien einmarschiert war, wollte ihr Vater nicht ins jugoslawische Heer, desertierte nach Österreich und wurde Soldat der deutschen Wehrmacht. Weil die slowenische Gendarmerie wiederholt den Vater suchen gekommen sei, habe die Mutter den Rucksack gepackt und sich und ihre Tochter von Schleppern nach Österreich bringen lassen, erzählt Gina Ritschel heute, fast 75 Jahre später. Sie strandete als Achtjährige mit ihrer Mutter in einem Obdachlosenheim in Graz.
„Ich war doch noch ein Kind.“Dieser Satz leuchtet wie ein Alarmlicht über dem, was sie von ihrer Kindheit der Entbehrungen in Österreich erzählt. Nach einem Dreivierteljahr im Obdachlosenheim konnte die Mutter ein kleines Zimmer mieten. Erst arbeitete sie als Putzfrau, dann in einem Rüstungsbetrieb. Das Kriegsende bescherte den beiden doppelte Not: Der Vater war in Kriegsgefangenschaft, die Mutter war arbeitslos, sodass die beiden zu verhungern drohten. Zudem waren sie wie alle anderen Vertriebenen in Österreich nicht anerkannt.
Barbara Warning hält in ihrem Buch fest, wie Gina Ritschel dies schildert: „Wir waren staatenlos und damit in allem benachteiligt. (. . .) Meine Mutter ist einmal am Markt eine Stunde angestanden für einen Chinakohl. Als die Leute gehört haben, dass sie keinen Grazer Dialekt sprach, haben sie sie beschimpft, sie solle verschwinden. Sie ist dann weggegangen ohne den Kohl. (. . .) Wir haben allein von den Zuteilungen leben müssen und die waren gering. Für ein Kind hat man am Tag einen Viertelliter Milch bekommen. Ein Erwachsener hat einen Achtelliter Magermilch erhalten. Wir waren ziemlich ausgehun- gert. Meine Mutter hat dann auch noch die Ruhr bekommen.“
Erschütternd ist die Episode vom Ei: Auf dem Weg nach St. Radegund hielten Gina und ihre Mutter an einem Bauernhaus. „Wir waren ganz schwach vor Hunger. Meine Mutter bat die Altbäuerin um ein Glas Wasser oder Milch. Die Bäuerin hat mir ein Brot gegeben, ich weiß nicht mehr, vielleicht war es ein Schmalzbrot, und ein Glas Milch, und als wir hinausgingen, hat sie mir ein Ei in die Hand gedrückt.“
Ein Ei? So etwas hatten die bei- den lang nicht mehr gesehen. „Wir haben lange überlegt, was wir mit dem Ei machen könnten. Dann haben wir beschlossen, wir machen Wasserspatzen aus Mehl und Wasser und darüber geben wir das Ei. So hatten wir beide etwas vom Ei.“
Buch:
Lesung