Salzburger Nachrichten

Nach Österreich

Das Kriegsende brachte neue Hoffnung, doch für viele begann ein Martyrium, das eine Völkerwand­erung auslöste. In diesem Treibgut von Menschen waren Kinder wie Karl Heinz Ritschel und seine spätere Frau.

- HEDWIG KAINBERGER 70 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg Barbara Warning, Kindheit in Trümmern, 192 Seiten, Ravensburg­er Buchverlag, Ravensburg 2015. mit Karl Heinz Ritschel und Barbara Warning: Mittwoch, 27. Mai, 19 Uhr, SN-Saal, Salzburg.

„Entlaust“ist links oben in Lila auf den Transports­chein gestempelt. Das Erste und Wichtigste, was den Flüchtling­en außerhalb der Tschechosl­owakei widerfuhr, war offenbar das Entlausen. „Wir sind von oben bis unten mit DDT eingestaub­t worden. In jede Öffnung wurde das Insektengi­ft gesprüht“, erzählt Karl Heinz Ritschel, der als 16-Jähriger damals auf der Flucht war.

DDT steht für Dichlordip­henyltrich­lorethan. Dieses überaus wirksame Insektengi­ft ist seit den 1970er-Jahren verboten. Doch ab 1939 – nachdem der Schweizer Paul Hermann Müller die tödliche Wirkung vor allem für Insekten erkannt hatte, wofür er 1948 den Nobelpreis für Medizin erhalten sollte – wurde dieses Nervengift gegen allerlei Schädlinge wie Kartoffelk­äfer und lästiges Kleingetie­r wie Läuse eingesetzt – so auch bei gar nicht sauberen Flüchtling­en.

Diese Menschen reisten nicht, sondern wurden transporti­ert: in einem Viehwaggon, „auf Stroh und ein paar Decken kauernd“, wie Karl Heinz Ritschel, der spätere Chefredakt­eur der „Salzburger Nachrichte­n“, nun erzählt. Der Transport für die Ritschels hatte die Nummer 192 und dauerte zwei Wochen. Sie erreichten ein fremdes Land und die Heimatlosi­gkeit: An der Grenze hatten sie nicht nur die Läuse los, sie waren auch staatenlos. Ihre einstige Heimat hatte ihnen die Staatsbürg­erschaft aberkannt, sie enteignet und des Landes verwiesen.

Der Zweite Weltkrieg war im Mai 1945 zu Ende. Der Friede, die Erlösung vom Bombenkrie­g, das Ende vom Sterben, das Warten auf Heimkehrer und die Zuversicht, nun werde alles besser, wurde Millionen von Europäern nicht zuteil. Für sie begannen vor und nach dem Kriegsende erst die Schikanen, dann die Martyrien der Vertreibun­g. Über zwölf Millionen dieser sogenannte­n Heimatvert­riebenen – Deutschspr­achige in Polen, der Tschechosl­owakei, Slowenien und Russland – strandeten in Deutschlan­d und Österreich, viele starben auf dem Weg oder sogar davor, so wie Karl Heinz Ritschels Großmütter. Von der Mutter seines Vaters erzählt er: „Sie war damals (1946, Anm.) über 70 Jahre alt, aber gesund und kräftig. Sie ist dann in Ostdeutsch­land verhungert.“Als seine Großmutter mütterlich­erseits in Ossegg im Erzgebirge aufgeforde­rt wurde, in jenen Wagen für zu Vertreiben­de einzusteig­en, der soeben vorgefahre­n war, passierte Folgendes: Sie „brachte das Bündel zum Wagen und sagte, sie müsse noch einmal ins Haus. Als sie nicht wiederkam, sahen die tschechisc­hen Soldaten nach ihr: Sie hatte sich erhängt“.

Mit dabei auf dieser immensen europäisch­en Völkerwand­erung waren viele Kinder und Jugendlich­e, die nach dem Krieg wie Treibgut über den Kontinent bewegt wurden. Weil einige der damaligen Kinder heute noch davon erzählen können, ist die deutsche Schriftste­llerin Barbara Warning einer Aufforderu­ng gefolgt: „Wir sind die Letzten. Fragt uns aus“, schrieb der deutsche Schriftste­ller Hans Sahl (1902–1993) in einem Gedicht. Rund zwanzig Zeitzeugen hat sie ausgefragt und deren Erzählunge­n nun im Buch „Kindheit in Trümmern“wiedergege­ben.

Zwei davon sind Karl Heinz und Gina Ritschel. Er wurde im Juni 1946 aus Komotau in Böhmen (heute Chomutov im Nordwesten Tschechien­s) vertrieben; sie floh 1941 aus der Gottschee, einer einstigen deutschen Sprachinse­l im heutigen Slowenien. Beide landeten als Flüchtling­e in Österreich.

Sie heirateten 1959 – damals kam Karl Heinz Ritschel auch zu den „Salzburger Nachrichte­n“– und leben seither in Salzburg.

Gina Ritschel stammt aus Rieg in der Gottschee. Nachdem die deutsche Wehrmacht in Jugoslawie­n einmarschi­ert war, wollte ihr Vater nicht ins jugoslawis­che Heer, desertiert­e nach Österreich und wurde Soldat der deutschen Wehrmacht. Weil die slowenisch­e Gendarmeri­e wiederholt den Vater suchen gekommen sei, habe die Mutter den Rucksack gepackt und sich und ihre Tochter von Schleppern nach Österreich bringen lassen, erzählt Gina Ritschel heute, fast 75 Jahre später. Sie strandete als Achtjährig­e mit ihrer Mutter in einem Obdachlose­nheim in Graz.

„Ich war doch noch ein Kind.“Dieser Satz leuchtet wie ein Alarmlicht über dem, was sie von ihrer Kindheit der Entbehrung­en in Österreich erzählt. Nach einem Dreivierte­ljahr im Obdachlose­nheim konnte die Mutter ein kleines Zimmer mieten. Erst arbeitete sie als Putzfrau, dann in einem Rüstungsbe­trieb. Das Kriegsende bescherte den beiden doppelte Not: Der Vater war in Kriegsgefa­ngenschaft, die Mutter war arbeitslos, sodass die beiden zu verhungern drohten. Zudem waren sie wie alle anderen Vertrieben­en in Österreich nicht anerkannt.

Barbara Warning hält in ihrem Buch fest, wie Gina Ritschel dies schildert: „Wir waren staatenlos und damit in allem benachteil­igt. (. . .) Meine Mutter ist einmal am Markt eine Stunde angestande­n für einen Chinakohl. Als die Leute gehört haben, dass sie keinen Grazer Dialekt sprach, haben sie sie beschimpft, sie solle verschwind­en. Sie ist dann weggegange­n ohne den Kohl. (. . .) Wir haben allein von den Zuteilunge­n leben müssen und die waren gering. Für ein Kind hat man am Tag einen Viertellit­er Milch bekommen. Ein Erwachsene­r hat einen Achtellite­r Magermilch erhalten. Wir waren ziemlich ausgehun- gert. Meine Mutter hat dann auch noch die Ruhr bekommen.“

Erschütter­nd ist die Episode vom Ei: Auf dem Weg nach St. Radegund hielten Gina und ihre Mutter an einem Bauernhaus. „Wir waren ganz schwach vor Hunger. Meine Mutter bat die Altbäuerin um ein Glas Wasser oder Milch. Die Bäuerin hat mir ein Brot gegeben, ich weiß nicht mehr, vielleicht war es ein Schmalzbro­t, und ein Glas Milch, und als wir hinausging­en, hat sie mir ein Ei in die Hand gedrückt.“

Ein Ei? So etwas hatten die bei- den lang nicht mehr gesehen. „Wir haben lange überlegt, was wir mit dem Ei machen könnten. Dann haben wir beschlosse­n, wir machen Wasserspat­zen aus Mehl und Wasser und darüber geben wir das Ei. So hatten wir beide etwas vom Ei.“

Buch:

Lesung

 ??  ?? Karl Heinz Ritschels Bescheinig­ung vom Juni 1946 für Transport (im Viehwaggon) und Entlausung mit dem giftigen DDT.
Karl Heinz Ritschels Bescheinig­ung vom Juni 1946 für Transport (im Viehwaggon) und Entlausung mit dem giftigen DDT.
 ??  ?? Gina Ritschel strandete achtjährig als Flüchtling in Graz.
Gina Ritschel strandete achtjährig als Flüchtling in Graz.
 ??  ?? Karl Heinz Ritschel war ab 1959 bei den SN, 1965 bis 1995 Chefredakt­eur.
Karl Heinz Ritschel war ab 1959 bei den SN, 1965 bis 1995 Chefredakt­eur.

Newspapers in German

Newspapers from Austria