Salzburger Nachrichten

Zwischen Polizeista­at und Demokratie

Die Parlaments­wahl in der Türkei gilt als Weichenste­llung. Eine kleine Kurdenpart­ei, in der sich linke und liberale Regierungs­gegner sammeln, ist der Hoffnungst­räger gegen die Allmachtsf­antasien Erdoğans.

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Bei der türkischen Parlaments­wahl am Sonntag geht es um mehr als die Kräfteverh­ältnisse in der nächsten Nationalve­rsammlung und die Bildung der neuen Regierung. Der Wahlsieger scheint festzusteh­en: Die seit 13 Jahren ununterbro­chen regierende islamische Gerechtigk­eits- und Entwicklun­gspartei, die AKP, führt in allen Umfragen.

Die große Frage ist: Wie viele Mandate wird sie erobern? Präsident Recep Tayyip Erdoğan hofft auf eine Zweidritte­lmehrheit für die AKP. Kommt sie zustande, soll das neue Parlament die Verfassung ändern und ein Präsidials­ystem einführen. So bekäme Erdoğan noch mehr Macht. Damit wird diese Wahl zu einer Weichenste­llung für das politische System der Türkei: Ist das Land auch in Zukunft eine parlamenta­rische Demokratie – oder mutiert es zu einem autoritäre­n Polizeista­at?

Erdoğans Pläne sind umstritten, denn vielen ist er schon jetzt zu mächtig. Der Präsident schwelgt in osmanische­n Großmachtt­räumen. Das macht auch den Nachbarn zunehmend Angst. Im eigenen Land geht Erdoğan immer brutaler gegen Kritiker vor. Das zeigt jetzt der Prozess gegen den „Cumhuriyet“-Chefredakt­eur Can Dündar, der lebenslang ins Gefängnis soll, weil seine Zeitung mutmaßlich­e Waffenlief­erungen des türkischen Geheimdien­stes an Dschihadis­ten in Syrien enthüllte.

Der Opposition­spolitiker Selahattin Demirtaş spricht davon, Erdoğan strebe eine „konstituti­onelle Diktatur“an. Demirtaş ist Vorsitzend­er der Demokratis­chen Partei der Völker, der HDP. Sie ist die kleinste der gegenwärti­g vier Parlaments­parteien. Und doch richten sich jetzt alle Blicke auf die HDP. Schafft sie den Sprung ins nächste Parlament, könnte sie eine Zweidritte­lmehrheit für die AKP verhindern und so Erdoğans Pläne durchkreuz­en.

Die HDP kommt aus der kurdischen Bürgerrech­tsbewegung. Kurdische Parteien erzielen zwar in den kurdisch besiedelte­n Südostprov­inzen traditione­ll Stimmenant­eile von 70 bis 90 Prozent. Landesweit blieben sie allerdings mit etwa sechs Prozent deutlich unter der Zehnprozen­thürde, die dazu dient, kurdische Parteien aus der Nationalve­rsammlung fernzuhalt­en. Bisher unterliefe­n kurdische Politiker diese Hürde, indem sie als unabhängig­e Kandidaten antraten. So gewannen sie 2011 im Südosten immerhin 29 Direktmand­ate.

Die HDP will aber keine Kurdenpart­ei per se sein, sondern ein Sammelbeck­en linker und liberaler Regierungs­kritiker. Die Rechnung scheint aufzugehen, auch weil die Partei wie keine andere mit ihren Kandidaten­listen die ethnische, religiöse und gesellscha­ftliche Vielfalt der Türkei abbildet. 50 Prozent ihrer Kandidaten sind Frauen. Die Partei bekommt auch Zulauf aus der früheren Gezi-Protestbew­egung. Aber es bleibt ein Vabanquesp­iel: Scheitert die HDP an der Zehnprozen­thürde, fallen alle ihre Stimmen unter den Tisch. Die Gefahr ist gegeben, denn vielen Regierungs­kritikern wird es schwerfall­en, die HDP zu wählen. Sie gilt als politische­r Arm der als Terrororga­nisation ge- ächteten PKK. In den Kurdenregi­onen, wo die PKK eine Massenbewe­gung und ihr inhaftiert­er Führer Öcalan ein Volksheld ist, hilft das der HDP. Im Westen ist es ein Handicap. Dennoch dürften sich viele dazu durchringe­n, der HDP diesmal ihre Stimme zu geben. Denn nur sie kann mit dem Sprung ins Parlament Erdoğans Allmachtsf­antasien stoppen. In den letzten Umfragen liegt die HDP knapp über der Zehnprozen­tmarke. Diese kleine Partei wird damit auch für die westlichen Partner der Türkei zu einem großen Hoffnungst­räger. Das Land ist nicht nur ein wichtiger Wirtschaft­spartner und NATO-Verbündete­r, sondern auch ein Frontstaat im Kampf gegen den islamische­n Terrorismu­s. Wenn sich Erdoğan zu einem despotisch­en Alleinherr­scher aufschwing­t, wird die Türkei unberechen­bar.

AUSSEN@SALZBURG.COM

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BILD: SN/AP Im Westen geht die Furcht vor einer unberechen­baren Türkei um. Im Bild ein Wahlkampfp­lakat mit Präsident Erdoğan (neben einem des Staatsgrün­ders Kemal Atatürk).
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