Salzburger Nachrichten

Akte Asyl

Nie zuvor wurden so viele Asylbesche­ide erlassen. Afghanen, Syrer, Somalier: Sie alle wollen in Österreich bleiben. In diesem Jahr wird das Bundesamt für Fremdenwes­en und Asyl über 70.000 Asylanträg­e entscheide­n – ein neuer Höchstwert. Die zuständige­n Mit

- Josef Schorn

Es war eine berührende Begegnung, im Winter 2011 am Salzburger Hauptbahnh­of. Fabien, ein junger Mann aus Kamerun, hatte es geschafft. Zweiunddre­ißig Mal versuchte er zuvor, die Mauern um die Festung Europa zu überwinden. Zweiunddre­ißig Mal scheiterte er. Er schrieb ein Buch darüber, ein Protokoll des Grauens: „Fabien Didier Yene: Bis an die Grenzen. Chronik einer Migration“. Und für den Autor öffnete sich das Tor nach Europa einen Spalt, befristet.

„Endstation Hoffnung“, der aus den Gesprächen mit Fabien und anderen Flüchtling­en entstanden­e Schwerpunk­t, erzählte nicht nur vom Leid der Menschen, die vor den Zäunen in Ceuta oder Melilla mit Gummikugel­n und Tränengas beschossen wurden, getreten und geknüppelt von Uniformier­ten, die den Ansturm der Armen auf das reiche Europa zurückschl­ugen. Er erzählte vom Zauber dieses Kontinents, der die Menschen in Afrika anzieht, er erzählte vor allem von der Gewalt und der Erniedrigu­ng, der die Migranten ausgesetzt sind, und vom Tod der vielen Namenlosen im Wüstensand.

Ein halbes Jahrzehnt später mag sich der Blick auf das Thema verändert haben, die Bedingunge­n, unter denen Migration stattfinde­t, sind unveränder­t geblieben. Das sollten wir nicht ganz vergessen, wenn von kriminelle­n und radikalisi­erten Flüchtling­en und erschwinde­lten Aufenthalt­sbewilligu­ngen zu lesen ist: Thomas Hödlmoser hat für seinen Schwerpunk­t zwei Männer in den Fokus gerückt, die die Interessen Europas vertreten – den Asylbeamte­n und den Undercover-Journalist­en, der militante Islamisten in Flüchtling­sunterkünf­ten aufspürt.

Schönes Wochenende!

AAlle wollen sie in das schmucklos­e Bürogebäud­e am Stadtrand von Salzburg – und das möglichst schnell: Frauen, Männer, Minderjähr­ige aus so unterschie­dlichen Ländern wie Syrien, Afghanista­n, Somalia, dem Kosovo, Serbien. Sie alle warten auf den Tag, an dem sie im Bundesamt für Fremdenwes­en und Asyl (BFA) einem Mitarbeite­r ihre Geschichte erzählen können.

Stefan L. ist einer der Referenten, zuständig unter anderem für Afghanista­n. Ein junger Mann erzählte ihm einmal, dass er zu Hause, wie andere junge Burschen auch, in Frauenklei­dern vor älteren Männern tanzen musste, die ihm auf die Hüfte schauten. Auch vergewalti­gt hätten sie ihn – mit Einwilligu­ng des Vaters, der den Sohn vermietet und mit dem Geld Drogen gekauft habe.

Ein anderes Mal berichtete eine Afghanin, wie sie auf der Flucht ihre jüngeren Geschwiste­r in der Türkei zurücklass­en musste. Wieder andere erzählten, die Taliban hätten sie rekrutiere­n wollen. Manche sagen, sie hätten nach Erbstreiti­gkeiten in der Familie Afghanista­n verlassen müssen.

In den Einvernahm­eräumen, wo die Gespräche stattfinde­n, fließen oft Tränen. „Nicht nur Frauen und Kinder, auch gestandene Männer weinen, wenn während der Einvernahm­e bei uns alles noch einmal durchlebt wird“, sagt Stefan L.

Wer in das vom Bund angemietet­e Bürohaus in der Münchner Bundesstra­ße vorgeladen wird, findet sich zunächst in einem kahlen Stiegenhau­s wieder. Das endlose Weiß der Wände wird nur durch das Grau der Türen unterbroch­en. „Kanzlei“steht auf einer Tür geschriebe­n, darunter die Übersetzun­g in mehreren Sprachen: Arabisch, Dari, Paschtu. An einer Wand hängt ein Anschlagka­sten mit praktische­n Infos wie: „Rückkehrhi­lfe. Ein Neustart mit Perspektiv­en“.

Hinter den grauen Türen finden die Einvernahm­en statt: Hier können die Asylbewerb­er, nach Monaten des Wartens, erklären, warum sie ihr Herkunftsl­and verlassen haben und warum sie nicht mehr zurück können. Es sind die Stunden, die für den Ausgang des Verfahrens entscheide­nd sein können – und in denen oft die Emotionen hochkochen. Gelegentli­ch geraten Flüchtling­e während des Gesprächs in Rage, oft brechen sie in Tränen aus, manchmal werden die Mitarbeite­r des BFA beschimpft. „Man muss mit den verschiede­nsten Reaktionen rechnen.“So möchte Stefan L. auch seinen vollen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen.

Noch nie gab es in den Asylbehörd­en so viele Akten zu bearbeiten, nie zuvor wurden so viele Asylbesche­ide erlassen: Im Vorjahr waren es mehr als 57.000, heuer dürften es 70.000 werden. Die Zahl der BFA-Mitarbeite­r hat sich seit 2014 fast verdreifac­ht – auf aktuell knapp 1300. Ziel ist es, den Rückstau bei den Anträgen aus dem Jahr 2015 abzubauen.

Bis zum nächsten Jahr soll die Verfahrens­dauer auf drei Monate sinken. Derzeit dauert es im Schnitt neun Monate, bis der Asylbesche­id ergeht, manchmal auch länger. Diese Ungewisshe­it sei für viele ein echtes Problem, berichten NGOs. „Viele Flüchtling­e haben das Gefühl, da sei ein bürokratis­cher Apparat am Werk, den sie nicht durchschau­ten“, sagt Josef Mautner von der Plattform für Menschenre­chte. Flüchtling­e hätten oft den Eindruck, dass Syrer relativ schnell Bescheide bekämen, Afrikaner dagegen lang warten müssten und bei Afghanen häufig kein Asyl gewährt werde. „Das ist für sie nicht nachvollzi­ehbar und das erzeugt intern Spannungen.“

Vor 14 Monaten habe er den Asylantrag gestellt, sagt Jafar Mirzai aus Afghanista­n, der in einem Caritas-Heim in Salzburg-Itzling lebt. In dieser Zeit des Abwartens können die Tage lang werden. „Ich lerne Deutsch, gehe ein bisschen spazieren – und ich gehe jeden Tag ins Fitnessstu­dio.“Noch länger wartet Mahamed Shakuur Muse. Im Fall des jungen Somaliers, der ebenfalls im Caritas-Haus wohnt, läuft das Verfahren seit mehr als zwei Jahren – was freilich daran liegt, dass er gegen die Ablehnung in erster Instanz Beschwerde erhoben hat. So wie Mahamed ergreifen heute Tausende Asylbewerb­er Rechtsmitt­el. Die Zahl der Beschwerde­verfahren sei „überdimens­ional“gestiegen, sagte erst vor wenigen Tagen Präsident Harald Perl vom Bundesverw­altungsger­icht. „Alle vier Minuten kommt ein neuer Fall.“Für heuer rechnet Perl mit 20.000 Beschwerde­n von erstinstan­zlich abgelehnte­n Asylbewerb­ern. 2015 bekamen mehr als 40 Prozent der Beschwerde­führer recht.

Zugleich werden Tausende Asylverfah­ren eingestell­t: Im Vorjahr sind mehr als 7000 Personen während des erstinstan­zlichen Verfahrens plötzlich verschwund­en. Viele dieser „U-Boote“dürften einfach in andere Länder weitergere­ist sein. Zusätzlich­e Arbeit fällt an, wenn Asylbewerb­er straffälli­g geworden sind und das BFA die rechtliche­n Konsequenz­en zu prüfen hat. 2015 wurden 14.458 Asylbewerb­er angezeigt – meist wegen Diebstahls, Körperverl­etzung oder Suchtmitte­lmissbrauc­hs. Die Kriminalst­atistik für 2016 liegt noch nicht vor – die Fallzahlen dürften aber noch höher sein.

Das Büro von Stefan L. liegt im zweiten Stock des BFA. Durch eine vergittert­e Metalltür geht es vom Einvernahm­ebereich hinauf in den Bürotrakt. Im Gang hängen Fotos von Flüchtling­skindern aus Albanien, Afghanista­n, Ruanda. An den Türen die Namen der Referenten – und ihre Titel: Revident, Oberrevide­nt, Amtsdirekt­or, Hofrat.

Auf dem Schreibtis­ch von Amtsdirekt­or Stefan L. landen die Akten von Menschen aus Afghanista­n und dem Balkan. Auf dem Balkan kennt sich Stefan L. aus, seit er im Kosovo als Bundesheer-Unteroffiz­ier für die KFOR gearbeitet hat. Im vergangene­n Jahr war er für das Europäisch­e Unterstütz­ungsbüro für Asylfragen mehrere Wochen auf Lesbos, sah die auf der Insel gestrandet­en Flüchtling­e in ihrer „Hilflosigk­eit“, lernte eine Familie mit einem Buben im Rollstuhl kennen. „Er hatte einen Granatspli­tter in der Lendenwirb­elsäule. Die Familie wollte nichts sehnlicher als eine medizinisc­he Behandlung für den Sohn. Auf Lesbos sind sie dafür aber nicht ausgelegt.“Solche Erfahrunge­n machten schon „sehr betroffen“.

Im Verfahren zählen aber nicht die Emotionen, sondern Fakten. Und diese zu überprüfen ist Knochenarb­eit. Die Arbeit des Referenten am Akt beginnt lang vor der Einvernahm­e: die Ergebnisse der Erstbefrag­ung durch die Polizei studieren, Akten und Quellen durchforst­en. Die Einvernahm­e selbst dauert mindestens zwei Stunden, oft auch länger. „Wir versuchen, zuerst ein Vertrauens­verhältnis herzustell­en“, sagt Stefan L. Dann kann der Asylbewerb­er die Gründe darlegen, warum er seine Heimat verlassen hat. Ein Dolmetsche­r übersetzt, der Referent tippt die Aussagen in den PC.

Wie aber lässt sich herausfind­en, was Wahrheit ist und was erfunden?

Die BFA-Mitarbeite­r nutzen dabei vor allem die Staatendok­umentation im Innenminis­terium – eine Auskunftss­telle, die Informatio­nen über die Herkunftsl­änder sammelt. Oft forschen sie auch selbst im Internet. Als ihm einmal ein Asylbewerb­er aus dem Balkan erzählte, er werde von der Mafia verfolgt, stellte Stefan L. über eine einfache Internetre­cherche fest, dass das geschilder­te, mafiöse „Bedrohungs­szenario“ schon längst nicht mehr aktuell war, sondern zehn Jahre zurücklag. Oft müssen auch Gutachten eingeholt werden – etwa wenn jemand eine Narbe hat, die von Relevanz sein könnte. Und wenn einer behauptet, 17 zu sein, obwohl er aussieht, als wäre er Mitte 20, kann ein Handwurzel­röntgen oder ein Altersguta­chten Aufschluss geben.

Gerade Afghanen und Nordafrika­ner haben oft keine Dokumente dabei. „Wenn es Zweifel an der Staatsbürg­erschaft gibt, haben wir unsere Methoden, um das zu überprüfen“, sagt Stefan L. So kann sich ein Marokkaner, der vorgibt, Syrer zu sein, leicht beim Dialekt verraten. „Wir können auch einen Sprachwiss­enschafter bestellen, der ein Attest macht.“Das alles führt dazu, dass die Verfahren lang dauern können. „Wir müssen uns ja mit dem Vorbringen des Flüchtling­s so intensiv wie möglich auseinande­rsetzen.“Asyl wird gewährt, „wenn am Ende des Tages die Fakten, die dafürsprec­hen, überwiegen“– sprich: wenn ein Fluchtgrun­d nach der Genfer Flüchtling­skonventio­n vorliegt.

2015 wurden in Österreich mehr als 88.000 Asylanträg­e eingereich­t, im Vorjahr rund 42.000. Bei den 57.000 Asylentsch­eidungen im Vorjahr wurde in fast jedem zweiten Fall Asyl, subsidiäre­r Schutz oder ein Aufenthalt­stitel aus humanitäre­n Gründen gewährt. 89 Prozent der Antragstel­ler aus Syrien wurde Schutz gewährt, 57 Prozent der Somalier, bei den Irakern waren es 40 Prozent, bei den Afghanen 30 Prozent. Man könne nie im Vorhinein sagen, dass Menschen aus einem Land Asyl bekämen und jene aus einem anderen nicht, sagt Stefan L. „Wir prüfen jeden Fall individuel­l.“

Und wie sieht die Zukunft aus? Die Balkanrout­e mag mehr oder weniger geschlosse­n sein. Wie lang die Türkei Wort hält und Flüchtling­e von der Weiterreis­e in die EU abhält, ist aber schwer zu sagen. Und die Route über das Mittelmeer ist weiterhin offen. Als sicher gilt, dass der Migrations­druck aus Afrika sogar noch steigen wird. Die Bevölkerun­g dort könnte sich in 50 Jahren verdoppeln, wenn nicht verdreifac­hen.

Stefan L. wird die Arbeit nicht ausgehen.

Ich lerne Deutsch, gehe spazieren – und jeden Tag ins Fitnessstu­dio. Jafar Mirzai, afghanisch­er Flüchtling Wir setzen uns mit jedem Fall so intensiv wie möglich auseinande­r. Stefan L., Asylrefere­nt

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Er entscheide­t über Asyl in erster Instanz: Referent Stefan L. in seinem Büro.
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Wo Emotionen auf Paragrafen treffen: das Bundesamt für Fremdenwes­en und Asyl in Salzburg.

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