„Diese Gewalt hat alle überrascht“
Historiker Rauchensteiner über den Kampf der politischen Lager in den 1920er-Jahren.
SN: Hätte die Eskalation der Gewalt nach dem Schattendorf-Urteil vermieden werden können, wenn die Sozialdemokratische Partei bzw. der Republikanische Schutzbund die Demo unter Kontrolle gehabt hätte? Rauchensteiner: Einerseits konnte man nicht wissen, welche Weiterungen das nimmt. Der Artikel von Friedrich Austerlitz in der „Arbeiter-Zeitung“war am Morgen wohl bekannt, doch nicht als Aufruf zur Gewalt gedacht. Andererseits hatte die Eskalation der Gewalt bereits eine solche Dimension erreicht, dass man bei jeder größeren innenpolitischen Krise damit rechnen musste, dass losgeschlagen wird. Und dass die Arbeiter in einer Art Sternmarsch Richtung Stadt marschiert sind, sah man ja. Dass es so gewaltsam wurde, hat aber sicher alle überrascht. Brandstiftung und Großbrand waren etwas absolut Neues.
SN: Wie wirkten sich der Justizpalastbrand und die vielen Toten auf das schon angespannte politische Klima aus? Dass 94 Menschen tot waren und so ungeheure Zerstörung stattgefunden hat, war für alle ein Schock. Die Lehren, die man daraus gezogen hat, sind nach unserem heutigen Verständnis aber in eine völlig falsche Richtung gegangen. Es gab eine Art Beharrungsvermögen. Jeder glaubte, einfach weitermachen zu können. Daher sind ja die nächsten Zwischenfälle relativ bald gekommen – 1928 bei zwei parallelen Aufmärschen von Heimwehren und Republikanischem Schutzbund in Wiener Neustadt. Um die beiden Verbände auseinanderzuhalten, zog das Bundesheer in der Mitte der Straße einen Kordon.
SN: Wäre die Geschichte ohne Schattendorf anders verlaufen – oder war der Weg in den Bürgerkrieg Jahre später einfach unvermeidlich? Der große Fehler war, nachträglich gesehen, dass die Große Koalition 1920 beendet wurde und sich damit ein parlamentarischer Ausgleich nicht mehr ausgegangen ist. Seit 1920 spielte die Sozialdemokratie insofern keine Rolle mehr, als sie im Parlament auf die Opposition beschränkt war, sie hatte überhaupt keinen Anteil mehr an der Regierung.
SN: Wirken Schattendorf, Bürgerkrieg und Austrofaschismus noch nach? Oder ist mit der Verlegung des Porträts von Ex-Kanzler Engelbert Dollfuß vom ÖVP-Parlamentsklub in das Niederösterreichische Landesmuseum dieses Kapitel abgeschlossen? Ich würde sagen, das ist heute nicht einmal mehr politisches Kleingeld. Es gab in der ÖVP ja schon in den 1970er- und 1980er-Jahren niemanden mehr, der im Mindesten etwas mit Dollfuß anzufangen wusste.
Zur Person: Manfried Rauchensteiner ist Historiker und lehrt an der Diplomatischen Akademie und der Universität Wien. Von 1992 bis 2005 leitete er das Heeresgeschichtliche Museum Wien. Sein jüngstes Buch, eine Geschichte Österreichs seit 1918, ist unter dem Titel „Unter Beobachtung“im Böhlau-Verlag erschienen.
„Der Fehler war, dass die Große Koalition 1920 beendet wurde.“Manfried Rauchensteiner, Historiker