Dem Kanzler ist die Kontrolle entglitten
Sebastian Kurz wird das Thema „12-Stunden-Tag“nicht los. Dabei ist das nur ein Vorgeschmack auf künftige Reformversuche.
Dass Bundeskanzler Sebastian Kurz am Freitag sich stundenlang zierte, die Nationalratssondersitzung über die Arbeitszeitflexibilisierung mit seiner Anwesenheit zu beehren, empörte die Opposition zu Recht, ist aber nur folgerichtig. Ein Kanzler, der keine Fotos will, die ihn in der Defensive und zornige Oppositionsmandatare in der Offensive zeigen, der sorgt eben dafür, dass solche Fotos gar nicht erst entstehen. Und bleibt daher dem Parlament nach Tunlichkeit fern. Das nennt man Message Control, und dass der Kanzler (der dann letztlich doch erschien) damit den Parlamentarismus ad absurdum führt, ist offensichtlich ein lässlicher Kollateralschaden.
Message Control, also die Kontrolle der Nachrichten und Informationsflüsse, die sich aus der Regierung in Richtung Öffentlichkeit ergießen, ist eines der Erfolgsrezepte des amtierenden Bundeskanzlers. Eigens abgestellte Kommunikationsprofis sorgen dafür, dass die Regierungsmitglieder mit einer Zunge sprechen. Und wenn das ausnahmsweise einmal nicht der Fall ist, sorgt man schnell für Ablenkung. Es häufen sich die Ungereimtheiten rund um die Razzia im Bundesamt für Verfassungsschutz? Flugs werden in einer „eilt“-Pressekonferenz von Kanzler, Vizekanzler und zwei Ministern die Ausweisung etlicher Imame und die Schließung diverser Moscheen verkündet, und schon hat Österreich ein neues Gesprächsthema. Das ganze Land ist in heller Aufregung über den Zwölf-Stunden-Tag? Flugs eine „eilt“Pressekonferenz über eine gut abgelegene Spionageaffäre zwischen Deutschland und Österreich inszeniert, und schon ist das Arbeitszeitthema vom Tisch.
Zumindest war das der Plan, aber anders als bei früheren Gelegenheiten funktionierte er diesmal nicht. Das Thema ist keineswegs vom Tisch. Das Lager um den Kanzler hat unterschätzt, dass die gesetzliche Möglichkeit zum Zwölf-Stunden-Tag und zur 60-Stunden-Woche das Zeug zum Aufreger hat – ein Aufreger, der von der SPÖ und der Gewerkschaft nach Kräften befeuert wird. Teils auch mit absurden Argumenten und mit der Unterstellung, dass ganz Österreich in ein Arbeitslager verwandelt werde. Doch auch an diesem roten „spin“ist die Regierung nicht unschuldig. Die Sozialministerin hatte in ersten Interviews offenbart, dass die gebotenen Überstunden in Zukunft auch unter Zwang abgeleistet werden müssen; und der Chef der nicht ganz ÖVP-fernen Industriellenvereinigung hatte im Fernsehen erklärt, dass bei Gleitzeit ein Wegfall der Überstunden zuschläge drohe. Empörung allerorten, und die Dementis der Regierungsseite verhallten ungehört. Erstmals war den koalitionären Spin-Doktoren die Message Control entglitten. Wovon Tausende Demonstranten, die sich am Samstag zwecks Abwehr dieses vermeintlichen oder tatsächlichen Anschlags auf die Arbeitnehmer rechte in Wien zusammen fanden, ein lautes Zeugnis ablegten.
Dabei kann es kaum überraschen, dass SPÖ und Gewerkschaft das Arbeitszeit thema zu ihrer größten Protestaktion seit Regierungsantritt aus erwählen würden. Denn anders als etwa die Kassen reform, die lediglich ein paar Dutzend Sozialversicherungsfunktionäre wirklich betrifft, sind von der Arbeitszeitflexibilisierung Millionen Werktätige betroffen. Zumindest potenziell. Das Thema wurde von SPÖ und Gewerkschaft daher gern aufgegriffen, wenngleich nicht ausschließlich aus dem Gefühl der sozialen Verantwortung heraus. Denn beide Institutionen haben ein wenig Mobilisierung bitter nötig. Beide Institutionen sind durch die schwarz-blaue Regierungs bildung an den Rand gedrängt worden: Die SPÖ purzelte in die Opposition, wo sie sich nicht wirklich zurechtfindet; und der ÖGB verlor seinen politischen Arm in der Regierung, nämlich die SPÖ. Dazu kommt der Umstand, dass der neue Kanzler glaubt, ohne Sozial partnerschaft regieren zu können. Die SPÖ ebenso wieder Ö GB haben nun endlich ein Thema gefunden, mit dem sie sich wieder in die Mitte des Geschehens katapultieren können. All das hat das Lager um den Kanzler unterschätzt, und dass Teile der schwarzen Arbeitnehmer organisationen sich an dem roten Protest beteiligen, macht die Situation für den Kanzler nicht angenehmer.
Wie es weitergeht? Die Regierung hofft, die Angelegenheit durch vorsommerlichen Beschluss im Parlament zu erledigen, und setzt darauf, dass im Herbst andere Themen die Menschen interessieren – zur Not kann man ja mit einer „eilt“-Pressekonferenz ein wenig nachhelfen. SPÖ und Gewerkschaft werden das Thema nach Kräften am Leben halten. Wer sich durchsetzen wird, ist schwer zu sagen. Doch eines ist dem Kanzler und seiner Regierung deutlich vor Augen geführt worden: Reformen, die über steuerliche Zuckerl für Familien und die Abschaffung unnötiger Gesetze hinausgehen, sind in diesem Land schwer umzusetzen. Etliche solcher Reformen muss der Kanzler noch angehen. Die Widerstände werden erheblich sein.