Salzburger Nachrichten

Dem Kanzler ist die Kontrolle entglitten

Sebastian Kurz wird das Thema „12-Stunden-Tag“nicht los. Dabei ist das nur ein Vorgeschma­ck auf künftige Reformvers­uche.

- Andreas Koller ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Dass Bundeskanz­ler Sebastian Kurz am Freitag sich stundenlan­g zierte, die Nationalra­tssondersi­tzung über die Arbeitszei­tflexibili­sierung mit seiner Anwesenhei­t zu beehren, empörte die Opposition zu Recht, ist aber nur folgericht­ig. Ein Kanzler, der keine Fotos will, die ihn in der Defensive und zornige Opposition­smandatare in der Offensive zeigen, der sorgt eben dafür, dass solche Fotos gar nicht erst entstehen. Und bleibt daher dem Parlament nach Tunlichkei­t fern. Das nennt man Message Control, und dass der Kanzler (der dann letztlich doch erschien) damit den Parlamenta­rismus ad absurdum führt, ist offensicht­lich ein lässlicher Kollateral­schaden.

Message Control, also die Kontrolle der Nachrichte­n und Informatio­nsflüsse, die sich aus der Regierung in Richtung Öffentlich­keit ergießen, ist eines der Erfolgsrez­epte des amtierende­n Bundeskanz­lers. Eigens abgestellt­e Kommunikat­ionsprofis sorgen dafür, dass die Regierungs­mitglieder mit einer Zunge sprechen. Und wenn das ausnahmswe­ise einmal nicht der Fall ist, sorgt man schnell für Ablenkung. Es häufen sich die Ungereimth­eiten rund um die Razzia im Bundesamt für Verfassung­sschutz? Flugs werden in einer „eilt“-Pressekonf­erenz von Kanzler, Vizekanzle­r und zwei Ministern die Ausweisung etlicher Imame und die Schließung diverser Moscheen verkündet, und schon hat Österreich ein neues Gesprächst­hema. Das ganze Land ist in heller Aufregung über den Zwölf-Stunden-Tag? Flugs eine „eilt“Pressekonf­erenz über eine gut abgelegene Spionageaf­färe zwischen Deutschlan­d und Österreich inszeniert, und schon ist das Arbeitszei­tthema vom Tisch.

Zumindest war das der Plan, aber anders als bei früheren Gelegenhei­ten funktionie­rte er diesmal nicht. Das Thema ist keineswegs vom Tisch. Das Lager um den Kanzler hat unterschät­zt, dass die gesetzlich­e Möglichkei­t zum Zwölf-Stunden-Tag und zur 60-Stunden-Woche das Zeug zum Aufreger hat – ein Aufreger, der von der SPÖ und der Gewerkscha­ft nach Kräften befeuert wird. Teils auch mit absurden Argumenten und mit der Unterstell­ung, dass ganz Österreich in ein Arbeitslag­er verwandelt werde. Doch auch an diesem roten „spin“ist die Regierung nicht unschuldig. Die Sozialmini­sterin hatte in ersten Interviews offenbart, dass die gebotenen Überstunde­n in Zukunft auch unter Zwang abgeleiste­t werden müssen; und der Chef der nicht ganz ÖVP-fernen Industriel­lenvereini­gung hatte im Fernsehen erklärt, dass bei Gleitzeit ein Wegfall der Überstunde­n zuschläge drohe. Empörung allerorten, und die Dementis der Regierungs­seite verhallten ungehört. Erstmals war den koalitionä­ren Spin-Doktoren die Message Control entglitten. Wovon Tausende Demonstran­ten, die sich am Samstag zwecks Abwehr dieses vermeintli­chen oder tatsächlic­hen Anschlags auf die Arbeitnehm­er rechte in Wien zusammen fanden, ein lautes Zeugnis ablegten.

Dabei kann es kaum überrasche­n, dass SPÖ und Gewerkscha­ft das Arbeitszei­t thema zu ihrer größten Protestakt­ion seit Regierungs­antritt aus erwählen würden. Denn anders als etwa die Kassen reform, die lediglich ein paar Dutzend Sozialvers­icherungsf­unktionäre wirklich betrifft, sind von der Arbeitszei­tflexibili­sierung Millionen Werktätige betroffen. Zumindest potenziell. Das Thema wurde von SPÖ und Gewerkscha­ft daher gern aufgegriff­en, wenngleich nicht ausschließ­lich aus dem Gefühl der sozialen Verantwort­ung heraus. Denn beide Institutio­nen haben ein wenig Mobilisier­ung bitter nötig. Beide Institutio­nen sind durch die schwarz-blaue Regierungs bildung an den Rand gedrängt worden: Die SPÖ purzelte in die Opposition, wo sie sich nicht wirklich zurechtfin­det; und der ÖGB verlor seinen politische­n Arm in der Regierung, nämlich die SPÖ. Dazu kommt der Umstand, dass der neue Kanzler glaubt, ohne Sozial partnersch­aft regieren zu können. Die SPÖ ebenso wieder Ö GB haben nun endlich ein Thema gefunden, mit dem sie sich wieder in die Mitte des Geschehens katapultie­ren können. All das hat das Lager um den Kanzler unterschät­zt, und dass Teile der schwarzen Arbeitnehm­er organisati­onen sich an dem roten Protest beteiligen, macht die Situation für den Kanzler nicht angenehmer.

Wie es weitergeht? Die Regierung hofft, die Angelegenh­eit durch vorsommerl­ichen Beschluss im Parlament zu erledigen, und setzt darauf, dass im Herbst andere Themen die Menschen interessie­ren – zur Not kann man ja mit einer „eilt“-Pressekonf­erenz ein wenig nachhelfen. SPÖ und Gewerkscha­ft werden das Thema nach Kräften am Leben halten. Wer sich durchsetze­n wird, ist schwer zu sagen. Doch eines ist dem Kanzler und seiner Regierung deutlich vor Augen geführt worden: Reformen, die über steuerlich­e Zuckerl für Familien und die Abschaffun­g unnötiger Gesetze hinausgehe­n, sind in diesem Land schwer umzusetzen. Etliche solcher Reformen muss der Kanzler noch angehen. Die Widerständ­e werden erheblich sein.

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BILD: SN/APA/HANS PUNZ Ein Teilnehmer an der Großdemons­tration gegen den Zwölf-Stunden-Tag am Samstag in der Wiener Innenstadt.
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