Regierung stellt sich gegen Versicherte
Die Rücktrittsrechte falsch beratener Lebensversicherungsnehmer werden beschnitten. Konsumentenschützer laufen Sturm dagegen. Was aber können Millionen falsch beratener Kunden jetzt noch tun?
HELMUT KRETZL
Zufall oder nicht. Tatsache ist, dass die Mitglieder der Regierungsparteien am gestrigen Mittwoch eine Gesetzesänderung auf den Weg gebracht haben, die Auswirkungen für Millionen Lebensversicherungsverträge im Land hat. Konsumentenschützer Peter Kolba jedenfalls sieht einen Zusammenhang mit der laufenden FußballWM. Denn eingebracht wurde die Novelle ausgerechnet zu Beginn der WM, viele Verbraucher seien durch das Großereignis abgelenkt. Andere sind auf Urlaub.
Es geht um alle zwischen 1994 und 2005 abgeschlossenen Lebensversicherungsverträge, die unter falscher oder fehlender Belehrung über Rücktrittsrechte abgeschlossen wurden. In dem Zeitraum wurden in Österreich rund 10 Millionen Lebensversicherungen abgeschlossen, bei mehr als der Hälfte könnte die Beratung zu beanstanden sein, schätzen Konsumentenschützer.
Laut einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2013 und einem Folgespruch des Obersten Gerichtshofs in Österreich können betroffene Versicherungsnehmer ohne Befristung von ihrem Vertrag zurücktreten – auch wenn der schon abgelaufen ist – und dabei das gesamte einbezahlte Kapital plus vier Prozent Zinsen pro Jahr zurückerhalten.
Mit der geplanten Gesetzesnovelle soll das bisher „ewige“Rücktrittsrecht ab Anfang 2019 signifikant eingeschränkt werden. Demnach soll bei einem Rücktritt im ersten Jahr die gesamte Prämie samt Abschlusskosten, aber ohne Zinsen, rückerstattet werden. Ab dem zweiten bis Ende des fünften Jahres wird der – deutlich geringere – Rückkaufswert ohne Abschlusskosten und Stornogebühren ausbezahlt. Ab dem sechsten Jahr soll nur noch der Rückkaufswert abzüglich Stornogebühren erstattet werden.
Der Gesetzesvorschlag werde den europarechtlichen Vorgaben vollends gerecht, sagt der vom Versicherungsverband (VVO) zugezogene Jurist Nicolas Raschauer. „Von einer Beschränkung des Rücktrittsrechts kann keine Rede sein“, argumentiert die Interessenvertretung. Denn eine Rücktrittserklärung müsse „den Versicherungsnehmer nur für die Zukunft von allen vertraglichen Verpflichtungen befreien“und umfasse somit „entgegen den Behauptungen von Prozesskostenfinanzierern und deren Anwälten keine Rückabwicklung der Lebensversicherung“.
Gegen diese Argumentation laufen Konsumentenschützer und deren Anwälte Sturm. Das widerspreche klar den Intentionen des EuGH, meinen sie. Sie berufen sich auf den „Effektivitätsgrundsatz“der EU, wonach der Zustand „ex tunc“wiederherzustellen sei, also von Anfang an, dem Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Das hieße bei einer Lebensversicherung, der Kunde müsste das Kapital zurückerhalten plus Zinsen, wie er sie bei treuhändischer Verwaltung erhalten hätte.
Einer der Prozesskostenfinanzierer, die geschädigten Anlegern ihre Dienste anbieten, ist die Facto Services GmbH. Sie bietet eine kostenlose Ersteinschätzung über die Erfolgsaussichten (auf www.facto.at), betreut den Fall und kassiert bei Rückabwicklung eine Erfolgsbeteiligung.
Facto-Chef die Versicherungen als „haarsträubend“. Formal werde damit das Rücktrittsrecht zwar anerkannt, aber so beschnitten, dass Verbraucher gleich schlecht behandelt würden, als hätten sie die Versicherung aufgekündigt.
Facto arbeitet mit dem Anwalt Alexander Klauser zusammen, der bereits für eine größere Gruppe Geschädigter im Auftrag des Vereins für Konsumenteninformation (VKI) einen Vergleich erzielt hat. Warum sich die deutsche Firma in dieser Sache in Österreich engagiere? Es gehe um den grundsätzlichen Umgang mit Europarecht – und die Folgen für die Verbraucher, sagt Keller. Den in Österreich mutmaßlich 5,5 Millionen „defekten“Lebensversicherungen stünden in Deutschland 86 Millionen Polizzen gegenüber. Setze sich diese Haltung durch, „haben wir in Deutschland einen Durchmarsch für die Versicherungswirtschaft“, sagt Keller.
Mit den unvereinbaren Expertenpositionen ist der nächste längere Rechtsstreit programmiert. Letztlich könnte der EuGH die jetzt beschlossene österreichische Bestimmung wieder kippen. Betroffenen Versicherungsnehmern hilft das allerdings nichts. Was können sie tun?
Sich informieren und möglichst rasch Schritte einleiten, wenn sie noch in den Genuss der deutlich besseren Bestimmungen kommen wollen, sind sich Kolba und Keller einig. Wegen der komplexen Rechtslage – die sich auch ständig verändert habe – ist wohl juristischer Beistand nötig.
Einen Überblick über die vielen Anbieter bieten etwa die Webseiten der Arbeiterkammern oder Kolbas neuer „Verbraucherschutzverein“. Sie erlauben eine erste kostenlose Einschätzung der Erfolgsaussichten. Prozesskostenfinanzierer übernehmen den Fall kostenlos und behalten bei Erfolg eine Prämie ein von üblicherweise rund 30 Prozent der erstrittenen Summe.
Weil die Lebensversicherung auch wegen Nullzinspolitik und demografischen Wandels in der Krise steckt, denken Versicherer über Änderungen nach. Die Allianz bringt ein neues Produkt, das mit flexiblen Ein- und Auszahlungsterminen vor allem jüngere Kunden ansprechen soll. Sie können einzahlen, „wann und wie viel sie wollen und sich auszahlen lassen, was sie wollen“, heißt es. Der Konzern garantiert die eingezahlten Beiträge zum 67. Geburtstag. Im Todesfall wird der veranlagte Vertragswert ausgezahlt.
„Argumente sind haarsträubend.“Fabian Keller, Facto-Chef