Salzburger Nachrichten

Eine lange Geschichte der Leiden

70. Auflage der Österreich-Radrundfah­rt. Eine eher kleine Rundfahrt schrieb große Geschichte­n. Unvergesse­n bleiben ihre tragischen Helden.

- MICHAEL SMEJKAL

Die Österreich-Rundfahrt wird 70: ein Sportereig­nis, das legendär geworden ist und dennoch im letzten Jahrzehnt immer um seine Existenz kämpfen musste. Eine Rundfahrt, die immer im Schatten der ganz großen Ausgaben wie Tour de France, Giro d’Italia oder Vuelta gestanden ist, aber wegen der Topografie kaum leichter ist und dennoch (oder deshalb?) unvergessl­iche Geschichte­n geschriebe­n hat – und die handeln oft von den Verlierern.

Dennoch muss die Geschichte der Rundfahrt mit ihrem wohl größten Helden beginnen. Genau 49 wagemutige Fahrer versammelt­en sich am 23. Juli 1949 auf der Wiener Ringstraße, wo sie von Bürgermeis­ter Theodor Körner, dem späteren Bundespräs­identen, auf die Reise geschickt wurden – samt Ersatzreif­en um den Hals, denn Servicetea­ms, die Räder wechseln, waren erst ab 1961 zugelassen.

Die Begeisteru­ng war groß, denn es war eine echte Österreich-Rundfahrt in dem durch Besatzungs­zonen geteilten Land: Die Sportler mussten an den Kontrollpu­nkten zwischen den Zonen nicht stehen bleiben, sie durften in voller Fahrt passieren.

Die erste Auflage wurde zum Solo eines Radfahrers, dem die Zeitgeschi­chte noch größere Erfolge verwehrt hat: Der Südtiroler Richard Menapace war bereits 35 Jahre alt, als er die Premiere bestritt. Er lebte in Salzburg, wo er in der Schießstat­tstraße ein Radgeschäf­t betrieb. Sein Triumphzug begann auf dem Glockner, der fortan zum Symbol dieser Rundfahrt werden sollte. Wegen eines Schaltdefe­kts bog Menapace in Heiligenbl­ut mit fünf Minuten Rückstand auf den Führenden in Richtung Auffahrt ein, auf dem Fuscher Törl hatte er jedoch unglaublic­he zehn Minuten Vorsprung.

Bis zur Schlusseta­ppe, die von Linz nach Wien führte, hatte Menapace bereits unvorstell­bare 26 Minuten Vorsprung herausgefa­hren. Doch am Schlusstag wusste er, was von ihm erwartet wird: Auf den Strengberg­en riss er vom Feld aus und setzte zu einer 160 Kilometer langen Solofahrt an. Mit 13 Minuten Vorsprung fuhr Menapace in Wien ein, wo 300.000 Fans vom Stadtrand bis zur Ringstraße ein Spalier bildeten. Menapace gewann mit dem nie mehr erreichten Vorsprung von 38:46 Minuten. Der Doyen der heimischen Radsport-Journalist­en, Karl Pointner, der seit 1958 die Rundfahrt begleitete, schrieb 2008: „Die Rundfahrt mag 100 oder 200 Jahre alt werden, ein Richard Menapace aber wird unerreicht bleiben.“

Nur: Bei der Rundfahrt ging es ja auch gar nicht immer um die Sieger. Die ersten Dramen waren materialbe­dingt: Die Bremsen waren unzureiche­nd, die Felgen wurden bei den Abfahrten so heiß, weswegen es regelmäßig Reifendefe­kte gab, und viele Straßen wie der Pötschenpa­ss waren noch gar nicht asphaltier­t.

Ein noch kritischer­es Thema war das Wetter. Kaum eine Rundfahrt ist und war so wetteranfä­llig wie jene durch die Berge Österreich­s. 1959 radelte der Tross auf dem Fuscher Törl in dichtes Schneetrei­ben, die Abfahrt auf den Rädern war zu gefährlich. Postbusse brachten die durchfrore­nen Sportler ins Tal. 1969 schrieb die heimische Tour dann große Schlagzeil­en: Schlechtwe­tter begleitete die Rundfahrt von Beginn an, schon der Glockner wird zur Kälteschla­cht. Auf der sechsten Etappe überrascht starker Schneefall die Fahrer hinauf auf den Obertauern. Die Radlegende Joop Zoetemelk zeigt sich unbeeindru­ckt und gewinnt im Solo, dahinter spielen sich Tragödien ab. Als „Mörder“beschimpfe­n die Fahrer die Rennleitun­g, Wolfgang Steinmayr versucht vergeblich einen Streik zu organisier­en. Viel zu spät wird abgebroche­n, der Großteil der Fahrer ist schon abgestiege­n. Am nächsten Tag nehmen nur noch 40 Fahrer die nächste Etappe in Angriff.

Zu dem Zeitpunkt war die Rundfahrt schon längst ein Medienerei­gnis. Seit 1954 berichtete Radio Rot-Weiß-Rot mit Edi Finger und Heribert Meisel live, ab 1966 gab es Live-Übertragun­gen einzelner Etappen im Fernsehen – eine Sensation.

Der ORF lieferte dann auch jene legendären Bilder ins Haus, die 1974 einen Mann berühmter machten als alle seine Siege: Rudi Mitteregge­r. Nach Jahren der ausländisc­hen Dominanz brach in den Siebzigerj­ahren das Zeitalter der österreich­ischen Radstars an: Rudi Mitteregge­r gewann 1970, 1974 und 1977, Wolfgang Steinmayr gleich vier Mal (1972, 1973, 1975, 1976), Roman Humenberge­r trug 1971 als erster und einziger Sieger bisher das Gelbe Trikot von der ersten Etappe bis zur Schlusseta­ppe und 1979 gelang dem Salzburger Herbert Spindler, eigentlich als Helfer für Rudi Mitteregge­r eingeteilt, die Sensation: Er holte sich den Sieg.

Doch elektrisie­rt hat das Publikum das ewige Duell Mitteregge­r gegen Steinmayr. Es war das Duell des eleganten Taktikers Steinmayr gegen den Kämpfer Mitteregge­r, dem schon das Schicksal des ewigen Zweiten drohte. Doch 1974 fehlt Steinmayr krankheits­bedingt und alles läuft für Mitteregge­r. Bis er auf dem Gaberl einen Reifendefe­kt hat und die unaufmerks­ame Servicecre­w im Feld viel zu spät reagiert. Mitteregge­r hatte schon sein Rad ausgebaut und lief mit diesem in der Hand am Straßenran­d auf und ab. „Wo san denn de Deppen …“, schrie der Steirer in seiner Verzweiflu­ng, die ORFÜbertra­gung machte ihn zum Medienstar – erst recht, weil es sich doch noch mit dem Gesamtsieg ausgegange­n ist.

1996 dann der große Umbruch. Die strikte Trennung in Amateur- und Profisport fällt und man mischt gleich ordentlich mit: Mit einem zahlungskr­äftigen Hauptspons­or lockt man Topteams nach Österreich, die der Tour ihren Stempel überdeutli­ch aufdrücken sollten. Erst fährt das italienisc­he Team Mapei alles in Grund und Boden und feiert 1997 sogar einen Dreifachsi­eg mit großen Namen: Nardello vor Vandenbrou­cke und Camenzind. Ein Jahr später wäre alles für Peter Luttenberg­er auf dem Zenit seiner Karriere angerichte­t, doch sein RabobankTe­amkollege Beat Zberg vermasselt ihm mit einer unglaublic­hen Fahrt von Heiligenbl­ut auf den Glockner (seine 48:36 Minuten Auffahrtsz­eit sind immer noch Rekord) den Sieg. Szenen einer Rivalität …

2000 kam ein Klassiker hinzu: War bisher der Glockner der „Scharfrich­ter“der Tour, ist das ab sofort das Kitzbühele­r Horn. Es ist das österreich­ische Alpe d’Huez. Wer auf den steilen Kehren hinauf in das Alpenhaus den Anschluss verliert, der hat auch die Rundfahrt verloren. Acht Mal war der Sieger auf dem Horn ident mit dem späteren Gesamtsieg­er. So wird es auch heuer sein, wenn ab dem heutigen Samstag 23.000 Höhenmeter über einen Sieger und viele Verlierer entscheide­n.

Die Rundfahrt kann 100 Jahre werden, Menapace bleibt unerreicht. Karl Pointner Radsport-Journalist seit 1958

Wo san denn de Deppen, des gibt’s ja ned … Rudi Mitteregge­r wartete 1974 auf die Servicecre­w

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BILD: SN/NATIONALBI­LIOTHEK, ORF, GEPA Theodor Körner gratuliert Richard Menapace zum Sieg (rechts), das Fuscher Törl ist seit 1949 dabei. Links unten: Rudi Mitteregge­r verzweifel­t.
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