Eine lange Geschichte der Leiden
70. Auflage der Österreich-Radrundfahrt. Eine eher kleine Rundfahrt schrieb große Geschichten. Unvergessen bleiben ihre tragischen Helden.
Die Österreich-Rundfahrt wird 70: ein Sportereignis, das legendär geworden ist und dennoch im letzten Jahrzehnt immer um seine Existenz kämpfen musste. Eine Rundfahrt, die immer im Schatten der ganz großen Ausgaben wie Tour de France, Giro d’Italia oder Vuelta gestanden ist, aber wegen der Topografie kaum leichter ist und dennoch (oder deshalb?) unvergessliche Geschichten geschrieben hat – und die handeln oft von den Verlierern.
Dennoch muss die Geschichte der Rundfahrt mit ihrem wohl größten Helden beginnen. Genau 49 wagemutige Fahrer versammelten sich am 23. Juli 1949 auf der Wiener Ringstraße, wo sie von Bürgermeister Theodor Körner, dem späteren Bundespräsidenten, auf die Reise geschickt wurden – samt Ersatzreifen um den Hals, denn Serviceteams, die Räder wechseln, waren erst ab 1961 zugelassen.
Die Begeisterung war groß, denn es war eine echte Österreich-Rundfahrt in dem durch Besatzungszonen geteilten Land: Die Sportler mussten an den Kontrollpunkten zwischen den Zonen nicht stehen bleiben, sie durften in voller Fahrt passieren.
Die erste Auflage wurde zum Solo eines Radfahrers, dem die Zeitgeschichte noch größere Erfolge verwehrt hat: Der Südtiroler Richard Menapace war bereits 35 Jahre alt, als er die Premiere bestritt. Er lebte in Salzburg, wo er in der Schießstattstraße ein Radgeschäft betrieb. Sein Triumphzug begann auf dem Glockner, der fortan zum Symbol dieser Rundfahrt werden sollte. Wegen eines Schaltdefekts bog Menapace in Heiligenblut mit fünf Minuten Rückstand auf den Führenden in Richtung Auffahrt ein, auf dem Fuscher Törl hatte er jedoch unglaubliche zehn Minuten Vorsprung.
Bis zur Schlussetappe, die von Linz nach Wien führte, hatte Menapace bereits unvorstellbare 26 Minuten Vorsprung herausgefahren. Doch am Schlusstag wusste er, was von ihm erwartet wird: Auf den Strengbergen riss er vom Feld aus und setzte zu einer 160 Kilometer langen Solofahrt an. Mit 13 Minuten Vorsprung fuhr Menapace in Wien ein, wo 300.000 Fans vom Stadtrand bis zur Ringstraße ein Spalier bildeten. Menapace gewann mit dem nie mehr erreichten Vorsprung von 38:46 Minuten. Der Doyen der heimischen Radsport-Journalisten, Karl Pointner, der seit 1958 die Rundfahrt begleitete, schrieb 2008: „Die Rundfahrt mag 100 oder 200 Jahre alt werden, ein Richard Menapace aber wird unerreicht bleiben.“
Nur: Bei der Rundfahrt ging es ja auch gar nicht immer um die Sieger. Die ersten Dramen waren materialbedingt: Die Bremsen waren unzureichend, die Felgen wurden bei den Abfahrten so heiß, weswegen es regelmäßig Reifendefekte gab, und viele Straßen wie der Pötschenpass waren noch gar nicht asphaltiert.
Ein noch kritischeres Thema war das Wetter. Kaum eine Rundfahrt ist und war so wetteranfällig wie jene durch die Berge Österreichs. 1959 radelte der Tross auf dem Fuscher Törl in dichtes Schneetreiben, die Abfahrt auf den Rädern war zu gefährlich. Postbusse brachten die durchfrorenen Sportler ins Tal. 1969 schrieb die heimische Tour dann große Schlagzeilen: Schlechtwetter begleitete die Rundfahrt von Beginn an, schon der Glockner wird zur Kälteschlacht. Auf der sechsten Etappe überrascht starker Schneefall die Fahrer hinauf auf den Obertauern. Die Radlegende Joop Zoetemelk zeigt sich unbeeindruckt und gewinnt im Solo, dahinter spielen sich Tragödien ab. Als „Mörder“beschimpfen die Fahrer die Rennleitung, Wolfgang Steinmayr versucht vergeblich einen Streik zu organisieren. Viel zu spät wird abgebrochen, der Großteil der Fahrer ist schon abgestiegen. Am nächsten Tag nehmen nur noch 40 Fahrer die nächste Etappe in Angriff.
Zu dem Zeitpunkt war die Rundfahrt schon längst ein Medienereignis. Seit 1954 berichtete Radio Rot-Weiß-Rot mit Edi Finger und Heribert Meisel live, ab 1966 gab es Live-Übertragungen einzelner Etappen im Fernsehen – eine Sensation.
Der ORF lieferte dann auch jene legendären Bilder ins Haus, die 1974 einen Mann berühmter machten als alle seine Siege: Rudi Mitteregger. Nach Jahren der ausländischen Dominanz brach in den Siebzigerjahren das Zeitalter der österreichischen Radstars an: Rudi Mitteregger gewann 1970, 1974 und 1977, Wolfgang Steinmayr gleich vier Mal (1972, 1973, 1975, 1976), Roman Humenberger trug 1971 als erster und einziger Sieger bisher das Gelbe Trikot von der ersten Etappe bis zur Schlussetappe und 1979 gelang dem Salzburger Herbert Spindler, eigentlich als Helfer für Rudi Mitteregger eingeteilt, die Sensation: Er holte sich den Sieg.
Doch elektrisiert hat das Publikum das ewige Duell Mitteregger gegen Steinmayr. Es war das Duell des eleganten Taktikers Steinmayr gegen den Kämpfer Mitteregger, dem schon das Schicksal des ewigen Zweiten drohte. Doch 1974 fehlt Steinmayr krankheitsbedingt und alles läuft für Mitteregger. Bis er auf dem Gaberl einen Reifendefekt hat und die unaufmerksame Servicecrew im Feld viel zu spät reagiert. Mitteregger hatte schon sein Rad ausgebaut und lief mit diesem in der Hand am Straßenrand auf und ab. „Wo san denn de Deppen …“, schrie der Steirer in seiner Verzweiflung, die ORFÜbertragung machte ihn zum Medienstar – erst recht, weil es sich doch noch mit dem Gesamtsieg ausgegangen ist.
1996 dann der große Umbruch. Die strikte Trennung in Amateur- und Profisport fällt und man mischt gleich ordentlich mit: Mit einem zahlungskräftigen Hauptsponsor lockt man Topteams nach Österreich, die der Tour ihren Stempel überdeutlich aufdrücken sollten. Erst fährt das italienische Team Mapei alles in Grund und Boden und feiert 1997 sogar einen Dreifachsieg mit großen Namen: Nardello vor Vandenbroucke und Camenzind. Ein Jahr später wäre alles für Peter Luttenberger auf dem Zenit seiner Karriere angerichtet, doch sein RabobankTeamkollege Beat Zberg vermasselt ihm mit einer unglaublichen Fahrt von Heiligenblut auf den Glockner (seine 48:36 Minuten Auffahrtszeit sind immer noch Rekord) den Sieg. Szenen einer Rivalität …
2000 kam ein Klassiker hinzu: War bisher der Glockner der „Scharfrichter“der Tour, ist das ab sofort das Kitzbüheler Horn. Es ist das österreichische Alpe d’Huez. Wer auf den steilen Kehren hinauf in das Alpenhaus den Anschluss verliert, der hat auch die Rundfahrt verloren. Acht Mal war der Sieger auf dem Horn ident mit dem späteren Gesamtsieger. So wird es auch heuer sein, wenn ab dem heutigen Samstag 23.000 Höhenmeter über einen Sieger und viele Verlierer entscheiden.
Die Rundfahrt kann 100 Jahre werden, Menapace bleibt unerreicht. Karl Pointner Radsport-Journalist seit 1958
Wo san denn de Deppen, des gibt’s ja ned … Rudi Mitteregger wartete 1974 auf die Servicecrew