Erwachen in Weißrussland
Swetlana Tichanowskaja hat sich nie für Politik interessiert. Dann wird ihr Mann wegen seines kritischen Blogs verhaftet und Tichanowskaja stellt sich als Kandidatin für das Präsidentenamt in Weißrussland auf.
Kurz vor der Präsidentschaftswahl in Weißrussland sind in der Hauptstadt Minsk wieder Tausende Unterstützer der Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja auf die Straße gegangen. Trotz eines Verbots versammelten sich am Donnerstagabend 5000 Menschen auf dem Kiew-Platz im Norden von Minsk. Sie klatschten, schwenkten Flaggen und riefen in Anti-Lukaschenko-Sprechchören „Hau ab“.
Tichanowskaja ist die wichtigste Rivalin des seit 26 Jahren autoritär regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko, der sich bei der Wahl am Sonntag um eine sechste Amtszeit bewirbt. Die 37-Jährige hatte sich zur Wahl gestellt, nachdem ihr
Mann, der bekannte Blogger Sergej Tichanowski, von der Wahl ausgeschlossen und inhaftiert worden war. Swetlana Tichanowskaja wollte nie Präsidentin werden. Bis Mai war die ehemalige Übersetzerin eine Unbekannte, jetzt ist sie die stärkste Konkurrentin des weißrussischen Autokraten Alexander Lukaschenko und könnte diesem am 9. August die sicher geglaubte Wiederwahl zu seiner sechsten Amtszeit streitig machen.
Doch Tichanowskaja, deren politische Haltung etwa zu Russland bisher vage bleibt, geht es nach eigenen Angaben nicht um Macht. „Jeder weiß, wie ich hier gelandet bin: aus Liebe zu meinem Mann“, sagte Tichanowskaja Mitte Juli zu
Journalisten. „Ich mache weiter, was er angefangen hat.“Den Menschen in Weißrussland (Belarus) will die Frau, die zuletzt vor allem Hausfrau und Mutter war, „die Chance geben, eine Wahl zu haben“.
Dafür nimmt die ausgebildete Englisch- und Deutschlehrerin viel in Kauf: Ihr Mann, der bekannte YouTuber Sergej Tichanowski wurde im Mai festgenommen. Die Behörden warfen ihm Gewalt gegen einen Polizeibeamten vor. Die Wahlkommission belegte ihn mit einem Kandidaturverbot. Später wurde Tichanowski außerdem beschuldigt, Massenunruhen organisiert und mit russischen Söldnern zusammengearbeitet zu haben.
Unter dem seit 1994 amtierenden Präsidenten Lukaschenko gehen die Behörden massiv gegen die Opposition vor. Mehrere potenzielle Präsidentschaftskandidaten sitzen im Gefängnis. Mindestens 1100 Menschen wurden laut der Menschenrechtsorganisation Wiasna seit Mai bei Wahlkampfveranstaltungen festgenommen. Ihre Kinder im Alter von fünf und zehn Jahren hat Tichanowskaja aus Angst um ihre Sicherheit ins Ausland gebracht. „Glaubt ihr etwa, dass ich keine Angst habe?“, rief Tichanowskaja bei einer Wahlveranstaltung in der Stadt Maladsetschna Ende Juli Tausenden Zuhörern entgegen. „Jetzt ist die Zeit, wo jeder seine Angst überwinden muss.“
Ohne politische Erfahrung ist es der ehemaligen Übersetzerin gelungen, Tausende Unterstützer auf die Straße zu bringen, sowohl in der Hauptstadt als auch in kleinen Städten. Dabei präsentiert sie sich als „ganz normale Frau und Mutter“. Sollte sie gewinnen, will sie ihren Mann und andere Oppositionelle befreien, ein Verfassungsreferendum abhalten und freie Wahlen ansetzen.