Wie Gott mich schuf
Werde ich nervös sein? Werde ich mich schämen? Fragen und Antworten zu meinem ersten Tag am FKK-Strand.
AAls ich diesen Auftrag erhalte, zögere ich. Eine Reportage über das Thema „Nacktheit“schreiben, inklusive Selbstversuch am FKK-Strand? Ich will erst noch eine Nacht darüber schlafen, bevor ich zusage. Das verwundert mich. Immerhin habe ich in der Vergangenheit über wesentlich härtere Themen berichtet. Krisengebiete sind mir nicht fremd, grelle Armut kenne ich aus erster Hand, zuletzt ließ ich mich für eine Reportage von einem afrikanischen Voodoo-Priester behandeln. Und jetzt zaudere ich? Was ist da los? Nacktheit ist doch das Normalste der Welt in einer aufgeklärten Welt. Oder?
Zudem ist sie omnipräsent in unseren Zeiten. In der Werbung, bei seltsamen Fernsehshows („Adam sucht Eva“), in der Kunst, im Internet. Jedes Kind kann heute mit einem Klick Bilder und Videos herunterladen, welche mir im jungen Erwachsenenalter noch Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten. Was, bitte, hätte man heutzutage noch nicht gesehen? In einer Gesellschaft, in der Pornodarsteller als Schönheitsideal taugen, sei es nun die glatt rasierte haarlose Scham oder die Ausmaße prim- und sekundärer Geschlechtsmerkmale, holt doch ein simpler nackter Körper keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Nein, das Aufsuchen eines FKK-Geländes im 21. Jahrhundert hat doch bei Gott nichts Unanständiges an sich, nichts Schmuddeliges oder Unseriöses. Letztlich könnte man das Nacktbaden sogar als Kulturakt werten, es heißt ja Freikörperkultur. Oder?
Ich mache mich also auf den Weg. Da ich mich gerade im Salzkammergut aufhalte, beschließe ich, gleich hier in der Nähe einen Strand aufzusuchen. Mit Verwunderung registriere ich, dass ich gar nicht so unglücklich darüber bin, weit weg von zu Hause meinen ersten öffentlichen Nacktauftritt hinzulegen. Meine Nachbarn oder gar Verwandte hier anzutreffen erscheint mir unwahrscheinlich. Mein Gott, was bin ich doch für ein Spießer.
Google Maps spuckt dann FKK-Strände in meiner Nähe aus. Im Umkreis von 15 Kilometern sind zwei: Beide am Hallstätter See, einer in Obertraun, der andere im Strandbad Untersee. Der Nähe wegen radle ich gleich ins Strandbad. Bin ich nervös? Was für eine Frage, ich bin doch kein Kind mehr. Wobei das der falsche Ansatz ist, denn Kinder haben wohl grundsätzlich eher kein Problem mit Nacktheit, erst mit der Pubertät, mit dem Übergang zum Erwachsenenalter tauchen üblicherweise übertriebene Schamgefühle auf. Vielfach verursacht erst kultureller Einfluss derartige Gefühle, die gesellschaftlichen Normen, religiöse Überzeugungen, wir Erwachsenen letzten Endes.
Nacktheit ist ja wohl natürlich, bekleidet kommt ja bekanntlich niemand zur Welt. Und: Nahezu alle Naturvölker haben einen extrem entspannten Umgang mit nackter
Haut. Zeigen viel davon, tragen gerade einmal Lendenschurz oder Penisköcher, wenn überhaupt. Bei meinem Erstbesuch beim Stamm der Mursi in Omo Valley (Äthiopien) lief man völlig unbekleidet in der Gegend herum. Die Kinder, die Erwachsenen, die Alten. Für die Einheimischen war das kein Problem und für mich als Besucher auch nicht. Gut, für mich sowieso nicht, ich hatte ja Short und T-Shirt. Wobei genau dieser Umstand am FKK-Strand wahrscheinlich nicht so locker gesehen würde. Es braucht keine besondere Intuition, um einschätzen zu können, dass bekleidetes Herumstreifen am Nacktstrand eine eher zu vermeidende Tätigkeit bleiben sollte. Für meine Recherche ist das definitiv keine Option. Ich erinnere mich, wie ich vor vielen Jahren gemeinsam mit einem Freund eine Runde um einen See gejoggt bin. Als sich ein Drittel des Sees als ausgewiesenes FKK-Gelände herausstellte, war das in unseren Augen kein großes Ding. Jedoch: Ein polterndes Nackerbatzl schrie uns hinterher: „Verschwindet’s, ihr Spechtler.“
Obwohl man das natürlich auch verstehen kann, Angezogene und Nackte an einem Strand, das spürt sich schon irgendwie seltsam an. Da die Entblößten, und auf der anderen Seite jene, die sich bedeckt halten und vielleicht auch noch neugierig gucken. Da liegt ein Ungleichgewicht in der Luft, welches Stress erzeugen kann.
Übrigens auch bei Naturvölkern. Wie ich das meine? Noch einmal zurück zum Volk der Mursi in Äthiopien, zehn Jahre nach meinem Erstbesuch. Viele trugen jetzt Shorts, speziell die Jungen. „Warum tut ihr das?“, wollte ich wissen. „Weil ihr es tut und weil es cool ist“, antwortete der – und außerdem käme es ihm primitiv vor, nackt herumzulaufen, nur die Armen täten das und er geniere sich dafür, meinte er weiter. Nicht religiöse Motive verursachten also Schamgefühle in diesem Jungen, sondern ausgerechnet unsere westliche, aufgeklärte und um Toleranz bemühte Gesellschaft. Verrückt, irgendwie.
Wobei – Offenheit? Irgendwie sind viele von uns auch ziemlich bieder. Ja, jeder zweite westliche Mann soll regelmäßig Pornos schauen, manche Menschen wechseln ihre Sexualpartner im Wochentakt, ohne von ihrem Umfeld dafür geächtet zu werden. Yogalehrerinnen bieten im Netz ihre Dienste deshalb erfolgreich an, weil sie den herabschauenden Hund und sämtliche anderen Asanas textilfrei zur Schau stellen.
Gleichzeitig stößt sich der „Playboy“plötzlich an Nacktfotos – und beschließt zwischenzeitlich deren Streichung. Der Playboy ohne erotische Nacktaufnahmen? Klingt wie ein Witz, war für kurze Zeit aber tatsächlich so. Funktionierte
dann aber doch nicht so gut. Oder – Babys und Kleinkinder, die nackt am öffentlichen Strand herumtollen oder Sandburgen bauen, waren noch bis in die Anfänge der Zweitausenderjahre ein völlig unverfängliches Urlaubsmotiv. Heute hüten sich die meisten Eltern, ihren Nachwuchs unbekleidet in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Und Fotos vom Sprössling in der Badewanne sind sowieso ein No-Go. Im „Mainstream“erregen sich Gemüter heute oft an Nacktszenen in Spielfilmen, über welche man in den 70er-Jahren noch gelacht hat. Und diese antiken Statuen, die nicht einmal die Geschlechtsteile verhüllen? Kann man die der unschuldigen Öffentlichkeit überhaupt noch zumuten? In Wahrheit ist Nacktheit nach wie vor ein äußerst kontroversiell diskutiertes Thema. Womit ich wieder bei der Eingangsfrage wäre: Bin ich nervös vor meinem ersten FKK-Auftritt? Nein, sage ich mir selbst. Aber gespannt bin ich schon, denn diese Ambivalenz unserer Gesellschaft in Sachen Nacktheit geht natürlich auch an mir selbst nicht spurlos vorüber.
Der FKK-Bereich am Hallstätter See liegt etwas abgeschottet vom herkömmlichen Badestrand. Man geht auf einem Kieselweg zuerst ein wenig den Textilstrand entlang, eine kleine Erhebung, über eine Holzbrücke. Voilà, das Paradies liegt vor einem, zumindest in Sachen Kleiderordnung. Grob geschätzt hundert unverhüllte Ebenbilder Gottes gehen, stehen, liegen und sitzen auf etwa drei Fußballfeldern Wiese, von Gesträuch blickdicht umgeben.
Natürlich geziemt es sich nicht, lang zu glotzen, zielstrebig fahre ich somit zu der noch freien Holzpritsche hin, werfe ein freundliches „Hallo“in die Runde und stelle mein Rad ab. Handtuch aus dem Rucksack, rauf damit auf die Pritsche. Und jetzt: Ziehe ... ich ... mich ... aus.
Und was fühle ich da? Oder bilde ich es mir nur ein? Doch nein, ich sehe es klar und deutlich im Augenwinkel, links und rechts, hier und jetzt, während ich mich ausziehe, beobachtet man mich. Ich bin jenen rund um mich nicht völlig schnuppe. Jedoch weniger mein Körper scheint Mittelpunkt des Interesses zu sein, vielmehr interessieren meine Blicke. Wohin gehen die, worauf fallen sie, wie schau ich – oder schau ich eben eh nicht?
Reflexartig gebe ich mich betont gelangweilt, ganz so als würde mich mein Umfeld überhaupt nicht interessieren. Hundert Mal hier gewesen, alles schon erlebt, ich gebe mich wie ein alter Hase in Sachen Nackigkeit, schaue nicht nach links und auch nicht nach rechts. Setze mich auf mein ausgebreitetes Handtuch und schaue hinaus auf den See, wo ein Schwan gemächlich vorbeizieht und mich ähnlich teilnahmslos ansieht wie ich ihn.
Ein unverfängliches Motiv, denke ich und lasse meine Blicke dem weißen Gefieder folgen. Nach maximal einer Minute langweilt mich das natürlich. Und ich lasse mich auf den Rücken fallen, genieße die warmen Sonnenstrahlen. Während ich so daliege, schießt mir der Gedanke in den Kopf, dass spätestens jetzt jeder bemerkt, dass ich hier ein Neuling bin: Nämlich an meiner Bräune, die keineswegs nahtlos daherkommt. Komisch, was ich so denke, denke ich.
Ich stehe auf, marschiere die etwa fünfzig Meter zum Wasser. Eine Frau lächelt mich an. „Kalt“, sagt sie. „Ja“, antworte ich, „kalt“. Dann schwimme ich und trara – nackt schwimmen, ja, ich gestehe, das mag ich. Fühlt sich an wie Freiheit, irgendwie.
Auf dem Rückweg zu meiner Pritsche fühle ich mich kurz unsicher. So nackt auf einer Wiese herumzugehen, das ist noch einmal etwas anderes und das ist mir, ich gestehe, an