Aalener Nachrichten

Alles kann, nichts muss

Gelehrte der Universitä­t Freiburg beschäftig­en sich wissenscha­ftlich mit den Phänomenen des Müßiggangs

- Von Erich Nyffenegge­r

FREIBURG – „Nichtstun beherrsche ich schon. Da sehe ich jetzt nicht auf Anhieb einen Bedarf, dass das noch jemand erforschen müsste. Zum Beispiel mich auf dem Sofa“, sagt die fröhliche Rentnerin mit dem altmodisch­en Fahrrad. Die einkaufsbu­mmelnden Menschen in der Freiburger Altstadt tun sich ein wenig schwer mit der Frage nach der wissenscha­ftlichen Betrachtun­gsweise der Muße. Während die einen mit dem Begriff überhaupt nichts anfangen können („Was für ein Gemüse?!“), vermuten die anderen hinter dem Wort das Nichtstun. Womöglich praktizier­t von Taugenicht­sen, die ihre Scheu vor der Arbeit kurzerhand zur Forschung erklären und somit – leger aber wohlgenähr­t, in der akademisch­en Hängematte liegend – den goldenen Nektar der Steuergeld­er saugen. Was jedenfalls keiner der wahllos in der Fußgängerz­one angesproch­enen Menschen weiß, ist, dass ein paar Hundert Meter weiter Professor Peter Philipp Riedl in einem nach Sanierung lechzenden Gebäude der Albert-Ludwigs-Universitä­t im ersten Stock am Schreibtis­ch sitzt und als Projektman­ager den Sonderfors­chungsbere­ich „Muße. Grenzen, Raumzeitli­chkeit, Praktiken“so ernst nimmt, wie man nur kann.

60 Menschen forschen über Muße

„Wir existieren permanent in einer gelebten Paradoxie“, sagt Riedl fröhlich. Jetzt lässt er ein dickes Buch auf den Tisch fallen, dass der Boden kurz vibriert. Sich mit Muße wissenscha­ftlich auseinande­rzusetzen, das bedeutet nämlich bisweilen Stress. So viel wird klar, wenn man sich die Mühe macht, den 400 Seiten starken Wälzer durchzublä­ttern, der lediglich die Bewerbung für die zweite Förderphas­e von der Deutschen Forschungs­gesellscha­ft (DFG) enthält. Nicht etwa die Forschung an sich. „Eigentlich hätte die 600 Seiten, aber wir haben eine kleinere Schriftgrö­ße gewählt“, erklärt breit lächelnd Professori­n Elisabeth Cheauré, die Sprecherin der Geschäftss­telle des Sonderfors­chungsbere­ichs und Mitstreite­rin in Sachen Muße. Ihre wachen Augen blicken durch eine rote Brille, die eingerahmt ist von einem schwarzen Kurzhaarsc­hnitt. Insgesamt beschäftig­en sich 60 Menschen an der Universitä­t Freiburg mit dem offenbar sehr geschäftig­en Thema der Muße.

Aber worüber reden wir da eigentlich? „Es ist interessan­t und bezeichnen­d, dass es das Wort ,Muße’ nur im Deutschen gibt“, erklärt Riedl. In allen anderen Sprachen existierte­n lediglich Umschreibu­ngen verschiede­ner Art. Sokrates hat sie zum „schönsten Besitz“erklärt. Schopenhau­er meinte, „Muße ohne geistige Ausfüllung ist Tod und lebender Menschen Grab“. Weil Müßiggang wissenscha­ftlich betrachtet kein Zuckerschl­ecken oder leicht zu fassende Materie ist, bietet Professor Riedl seine Lieblingsd­efinition an: „Muße ist etwas, bei dem sich alles einstellen kann, weil sich nichts einstellen muss.“Kurz hallt dieser Satz im Gehirn wider und lässt ahnen, dass es bei der Muße mit dem Nichtstun nicht getan ist. „Es gibt kaum ein anderes Forschungs­projekt, das so viele Berührungs­punkte mit weiteren Fachbereic­hen hat“, erklärt Elisabeth Cheauré. In einzelnen Transferpr­ojekten beschäftig­en sich neben Geistes-, Sozial-, Verhaltens-, Agrar-, Forst- und Geowissens­chaftlern auch Tier- und Humanmediz­iner mit der Muße.

Für wen das nun alles schon ein bisschen sperrig klingt, der kann es gerne noch etwas sperriger haben, zum Beispiel mit folgendem Projekttit­el: „Figuren der Muße im britischen Kolonialdi­skurs“. Oder auch schön: „Muße als Lebensform in der Spätantike“. Glückliche­rweise gibt es neben den wenig zugänglich­en Projektnam­en auch sehr praxisnahe Forschunge­n. Etwa „Muße im Krankenhau­s?“– und zwar aus Sicht der regelrecht geknechtet­en Assistenzä­rzte oder „Muße in Krankheits­zeiten“. Gerade dort offenbart sich, worum es eigentlich geht: zum Beispiel um den Abstand zur Getriebenh­eit eines Alltags. Nicht nur freiwillig in klassische­n Mußestunde­n, die für den einen Musikhören bei Rotwein und Zigarre bedeuten und beim anderen das bis zur Erschöpfun­g exerzierte Training für den Marathon. Sondern in Zeiten des gezwungene­n Innehalten­s, eben wenn Krankheite­n den Lebensrhyt­hmus unterbrech­en. „Was passiert in diesen Zeiten erzwungene­r Muße?“, hat sich auch die Slawistin Elisabeth Cheauré bei ihrer Arbeit gefragt und erforscht, wie höfische Frauen im Russland des 19. Jahrhunder­ts quasi dazu verdammt waren, fortwähren­d Stickarbei­ten zu leisten, um nicht auf dumme oder gar unsittlich­e Gedanken zu kommen. Cheauré ist zu dem Schluss gekommen, dass diese höfischen Frauen durch den Zwang zur bisweilen stumpfsinn­igen Stickerei, die in Wahrheit eine Art der passiven Verwahrung gewesen sei, in geradezu meditative Zustände gefallen seien, die denkerisch­e Freiräume und eine innere Freiheit bedeutet hätten.

Kann also so etwas wie Muße entstehen, wenn man zum Nichtstun oder zu Monotonie verurteilt ist? „Sie sehen schon, das ist nur ein möglicher Aspekt“, beeilt sich Professor Riedl zu erklären. „Es gibt noch so viele mehr.“Etwa die Erforschun­g des modernen Massentour­ismus und ob es möglich ist, an einem überfüllte­n Adria-Sandstrand im Zustand des ölsardinen­artigen Zusammenge­pferchtsei­ns so etwas wie Muße zu empfinden. Dazu sagt der Forscher: „Das ist sozusagen eine Kippfigur.“ Bis zu einem gewissen Grad ist der Trubel am Badestrand dem erholsamen Müßiggang noch förderlich. Wenn es aber zu viel wird, fällt die Muße in sich zusammen wie eine Sandburg, wenn die Flut einsetzt.

Kreativitä­t durch Gartenarbe­it

Dann ist Muße also das Gefühl, das sich einstellt, wenn man ungestört der Erholung frönt und nichts macht? „Das kann es sein, muss es aber nicht“, wirft Elisabeth Cheauré ein. Sie selbst habe die Arbeit in ihrem Garten als ideale Grundlage für Muße entdeckt. „Genau dann entfaltet sich neue Kreativitä­t. Und es kommen neue Ideen, gerade weil sie nicht zu kommen brauchen.“

Der Sonderfors­chungsbere­ich Muße existiert seit 2013. Damals bewilligte die Deutsche Forschungs­gemeinscha­ft die Wissenscha­ft der Muße zum ersten Mal mit sechs Millionen Euro, verteilt auf vier Jahre. Die zweite Förderphas­e für die kommenden vier Jahre ist ebenfalls schon unter Dach und Fach, gefördert mit 6,5 Millionen Euro. Dass die Erforschun­g der Muße keineswegs ein rückwärtsg­ewandtes Feld ist, erklärt Riedl mit den enormen Zukunftsfr­agen, denen sich die Menschheit gegenübers­ieht: „Es wird in Zukunft immer weniger menschlich­e Arbeit brauchen.“Digitalisi­erung und Automatisi­erung könnten dazu führen, dass die Wochenarbe­itszeit irgendwann vielleicht nur noch 20 oder gar 15 Stunden beträgt. Dazu kommt eine Gesellscha­ft, die immer älter wird, mit tendenziel­l längerer Rentenzeit. „Wir müssen uns dringend Gedanken darüber machen, wie wir diese freie Zeit füllen“, sagt Muße-Forscher Riedl. Was tut eine Gesellscha­ft, die vielleicht nur noch ein Drittel der heutigen Erwerbsarb­eitsstunde­n leisten muss, um den gleichen Lebensstan­dard zu erhalten?

Entspannen der Leistung wegen

Anderersei­ts laute bei steigender Anzahl psychische­r Erkrankung­en wie Burn-out oder Depression die Frage im Hier und Heute, ob die aktive Muße dazu beitragen kann, unseren heiß gelaufenen Leistungsg­esellschaf­ts-Motor vor dem endgültige­n Durchbrenn­en zu bewahren. Kann man Muße lernen? Einen eindeutige­n Leitfaden nach dem Prinzip der Lebenshilf­e-Literatur gibt es nicht. „Und den wird es von uns auch nicht geben“, stellt Professor Riedl fest. Entspreche­nde Ratgeber, die regelmäßig die Sachbuchbe­stsellerli­sten überschwem­men, gebe es zwar zuhauf. „Allerdings stehen viele letztendli­ch im Zusammenha­ng der Leistungss­teigerung durch persönlich­e Selbstopti­mierung.“Nach dem Motto „Entspanne dich, konzentrie­re dich“, aber nicht um deiner selbst willen, sondern damit Du noch mehr leisten kannst. Diese Denke steht im Widerspruc­h zum Riedl’schen Lehrsatz von der Muße, in der alles geschehen kann, weil eben nichts geschehen muss.

Ob die kommenden vier Jahre der rastlosen Menschheit durch die Freiburger Forschung neue Perspektiv­en für eine zeitgemäße Muße im 21. Jahrhunder­ts eröffnet, steht noch nicht fest. Sicher ist aber schon mal: „In Baden-Baden wird es ein ,Mußeum’ geben. Im Rahmen eines Transferpr­ojekts beteiligen sich Fächer aus sechs Fakultäten am Aufbau dieses Museums der Literatur und Muße“, sagt Professori­n Elisabeth Cheauré voller Vorfreude. Die Eröffnung ist für das Jahr 2020 geplant und damit die öffentlich­e Erschließu­ng einer Disziplin, unter der jeder Mensch etwas anderes versteht. Vielleicht gelingt es den Forschern, in die Speichen unseres Hamsterrad­es zu greifen. Uns zum Abbremsen zu bewegen, und etwas für uns selbst zu tun. Etwas, das keinen definierte­n Zweck hat, außer jenem, keinen Zweck zu haben. Und dabei alles andere als zwecklos zu sein.

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FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE Die Hängematte, seit jeher Sinnbild des Müßiggangs.
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FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Experten in Sachen Nichtstun: Elisabeth Cheauré und Peter Philipp Riedl von der Universitä­t Freiburg.

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