Aalener Nachrichten

Die Goldenen Zitronen arbeiten sich am Zeitgeist ab

Auf ihrem neuen Album knöpfen sie sich Rechtspopu­lismus, aber auch linke Protestkul­tur vor

- Von Oliver Beckhoff Live:

HAMBURG (dpa) - Sie tragen knalligbun­te Gewänder, sehen paradiesvo­gelhaft aus, ein bisschen nach Hippiekomm­une – und irgendwie auch nicht, weil das modisch alles nicht so leicht zuzuordnen ist. „Eigen“ist der Bühnenlook der Goldenen Zitronen in jedem Fall – wie sie selbst seit fast 35 Jahren. Den Punk als Subkultur hat die Gruppe überlebt. Einen Teil der Haltung hat sie beibehalte­n und weiterentw­ickelt.

Anzeichen, dass den Staffelsta­bträgern linker Gegenkultu­r bald das Material ausgehen könnte, gibt es nicht. Vieles, das die Band um Sänger, Theaterreg­isseur und Autor Schorsch Kamerun sowie Gitarrist und Sänger Ted Gaier seit der Bandgründu­ng 1984 nervt, ist derzeit geradezu omnipräsen­t. Goldene Zeiten für Die Goldenen Zitronen, könnte man sagen. Dass die vom Zeitgeist – ganz im Gegenteil – aber alles andere als berauscht sind, ist auf „More Than A Feeling“deutlich zu hören.

Gewettert wird in alle Richtungen: gegen Rechtspopu­listen und gegen von solchen in die Welt gesetzte Falschmeld­ungen, gegen verklärte Vergangenh­eit, aber auch gegen die „eigene“Szene. Es geht um Grenzzäune und Mauerbaute­n als Teil einer populistis­chen Strategie: auf Ängste reagieren, die zuvor von Populisten erst geschürt wurden – gedacht sei an den neuen ungarische­n Grenzzaun oder den Government­Shutdown in den USA, als Folge des Haushaltss­treits um den Bau einer Mauer zum Nachbarlan­d Mexiko.

Symptome alter Probleme

Was die Zitronen von derlei Entwicklun­gen halten? „Nörgel, nörgel, mecker, mecker“, heißt es zusammenge­fasst in einer Mitteilung zum Album. Der Rechtsruck in Europa, Populismus auch in deutschen Parlamente­n, ja sogar Entwicklun­gen wie der NSU: Aus Sicht von Sänger Schorsch Kamerun kam das alles nicht aus dem Nichts. Es sind Symptome alter Probleme, die neue Gewänder tragen.

„Es ist ja nicht so, dass wir uns zum Beispiel über den NSU mega gewundert hätten. Alles war immer präsent, wenn man hingeschau­t hat. Wie erzählt wurde, wie sich das anhörte, das klang auch schon zu unserer Teenagerze­it nicht viel anders“, sagt Kamerun der Deutschen PresseAgen­tur mit Blick auf polternd-rechtes Stammtisch-Gehabe in früheren Jahrzehnte­n. Wie die Band, die sich musikalisc­h immer wieder neu erfunden hat und heute vielleicht am ehesten als Avantgarde-Pop bezeichnet werden kann, damit umgeht, habe sich aber geändert: „Wir suchen nach komplexere­n Tönen. Das kann sich extra direkt oder auch mal abstrahier­ter anhören, im Gegensatz zu den Parolen unserer frühen Tage.“

Auch auf „More Than A Feeling“wechseln sich diese Herangehen­sweisen ab. Mal geht es kryptisch oder auch ambivalent zu. In „Nützliche Katastroph­en“lädt der Populismus etwa von Synthesize­rn begleitet melodisch dudelnd zum Mitsingen ein: „Lalalalala, ich bin stark, ich helfe dir.“An anderer Stelle wird die Wut einfach rausgelass­en, klar und direkt. „Baut doch eine Mauer um den Scheißkont­inent“, heißt es in „Katakombe“. Europäisch­e Werte? Aus Sicht der Zitronen ist das ein Marketingb­egriff, konterkari­ert von Abschottun­gspolitik.

Was passieren könnte, wenn Anhänger völkischer Ideologien ihre Ordnungsfa­ntasien durchsetze­n, wird in „Mauern bauen (testweise)“durchexerz­iert: Eine Mauer entsteht, um „die Musik, die sie hören wollen, die Autos, die sie fahren wollen, die Schweine, die sie essen wollen“. Am Ende steht da ein „in die Mauer hinein gebautes Volk“.

Das Mauern-Bauen, die Auseinande­rsetzung mit dem G20-Gipfel und linker Protestkul­tur heute, das rechte Wutbürgert­um und der Populismus: Es sind die Dreh- und Angelpunkt­e dieses Albums. „Hä?“, „What?“, „Was?“– manchmal bleibt als Antwort auf den Zeitgeist nur die Verwunderu­ng in Form solcher Ausrufe. Neben dem Abarbeiten an alten Feindbilde­rn ist es eine Suche nach einem neuen Verständni­s für das, was sich da gerade entwickelt. „Lieber tanz ich, als G20“, singt Kamerun in „In der Schleife“.

Dem Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs in Hamburg im Juli 2017 hängt die Band noch immer nach: Hat der Kampf, der auf der Straße „in symbolträc­htigen Bildern ausagiert“wurde, vorgeblich für „die Verdammten dieser Erde“, mit den angeblich Gemeinten überhaupt noch viel zu tun? Ist das nicht längst ein Rollenspie­l, ein Event, in dem jeder – Demonstran­ten, Polizei und Medien – seine Rolle kennt und spielt und schon vorher weiß, welche Bilder entstehen sollen?

Die Goldenen Zitronen waren damals selbst vor Ort, spielten vor der linksauton­omen „Welcome to Hell“Demo ein Konzert. „Alle Seiten haben verstanden, dass sie unbedingt krasse Bilder produziere­n müssen, sonst kommen sie gar nicht erst vor“, sagt Kamerun im Gespräch. Er erinnert sich an Vorbereitu­ngen von Protesten. Manchmal sei es wie bei einem „Werbe-Pitch“gewesen: „Dass erst mal ein catchy Slogan her muss und eine Art laute Sichtbarke­it, sonst braucht man gar nicht erst antreten.“

Auch der Vergangenh­eitsverklä­rung wenden sich die Zitronen zu: Da wird die „verhasste“, „graue“BRD besungen, mit ihren Dauerwelle­n und Nikotinfin­gern, ihren „unentschlo­ssenen Outfits“und „kollektive­n Ängsten“. Damals war alles besser? Nee, damals war auch vieles Mist: nörgel, nörgel, mecker. Wie das alles weitergehe­n soll? Wissen die Goldenen Zitronen auch noch nicht, aber sie haben mit der Suche nach Antworten begonnen.

8.4. München, Strom; 9.4. Stuttgart, Im Wizemann; 11.4. CH-St. Gallen, Palace; 14.4. Heidelberg, Karlstorba­hnhof.

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FOTO: FRANK EGEL/FACTORY 92 Sänger Schorsch Kamerun (rechts) und seine Band Die Goldenen Zitronen positionie­ren sich gegen Rechtspopu­lismus, Falschmeld­ungen und eine Verklärung der Vergangenh­eit.

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