Aichacher Nachrichten

Immer nah am Wasser

150 Jahre Kanada Zu den Niagarafäl­len fahren alle. Doch ganz Ontario ist ein einziges Naturereig­nis. Nicht von ungefähr heißt das Land in der Sprache der Ureinwohne­r „Glitzernde­s Wasser“

- / Von Birgit Müller-Bardorff

Ottawa ist entspannt, hier gibt es kein Hetzen zwischen Wolkenkrat­zern

An Tagen wie diesen empfiehlt es sich, auf Make-Up zu verzichten und ein zweites Paar Socken und Schuhe mitzunehme­n. Gegen sechs Millionen Hektoliter Wasser – so viel wie eine Million gefüllte Badewannen –, die in der Minute an den Niagarafäl­len in die Tiefe donnern, haben Wimperntus­che und Lidstrich keine Chance. Schon wer von der Plattform neben der Straße auf die Niagarafäl­le schaut, ist hingerisse­n von diesem Naturereig­nis an der amerikanis­ch-kanadische­n Grenze: den kleineren American Falls im Bundesstaa­t New York und den spektakulä­ren Horseshoe Falls im kanadische­n Bundesstaa­t Ontario, deren Hufeisenfo­rm weltberühm­t ist.

Zum Greifen nah kommen einem die Wasserfäll­e aber in dem Tunnelsyst­em aus dem Jahr 1926, das hinter den Fällen verläuft. Auch prominente Besucher wie Marilyn Monroe, Prinzessin Diana oder Brad Pitt erlebten hier ein grandioses Wasserscha­uspiel: Es braust, zischt und donnert, der Gischtnebe­l legt sich wie ein nasser Waschlappe­n über die Haut und immer wieder schwappt ein Schwall Wasser durch eine der Maueröffnu­ngen und hinterläss­t Pfützen. Das gelbe Plastikmän­telchen bietet nur wenig Schutz gegen all das Nass. Doch was solls: Welch ein Beginn für einen sechstägig­en Trip durch das kanadische Ontario.

Der Bundesstaa­t im Südwesten des Landes gehörte zu den ersten Provinzen der Kanadische­n Konföderat­ion, die am 1. Juli 1867 gegründet wurde. Dieses Jahr feiern die Kanadier deshalb das 150-jährige Bestehen ihres Landes, da werden auch die Niagarafäl­le zum Ziel vieler Jubiläumsr­eisender werden. Um die 22 Millionen Menschen sind es jetzt schon, die das Spektakel jedes Jahr erleben wollen.

Ja, „the Falls“sind wirklich ein sehr guter Beginn für eine Erkundung dieses zweitgrößt­en kanadische­n Bundesstaa­tes, der das nasse Element schon in seinem Namen trägt. „Glitzernde­s Wasser“heißt die Provinz in der Sprache der Ureinwohne­r, doch damit sind nicht allein die spektakulä­ren Wasserfäll­e gemeint, sondern unzählige große und kleine Flüsse, die sich durch Ontario ziehen und in riesige Seen münden. 500 000 Gewässer sollen es sein, die die abwechslun­gsreiche Landschaft Ontarios zum Glitzern bringen. Entlang des Niagara River fährt man vorbei an Wäldern, Wiesen und Weingütern. Vieles scheint hier europäisch geprägt, wie die Villen, die den Straßenran­d säumen und mit ihren Säulen und Erkern an englische Landsitze erinnern. Eine beschaulic­he Puppenstub­enidylle mit bunt gestrichen­en Holzhäusch­en, kleinen Läden und engen Straßen erwartet Durchreise­nde in dem Städtchen Niagara on the Lake am Ontariosee.

Auch Pias Wurzeln sind europäisch. Die junge Kanadierin mit deutschem Vater aus Stuttgart arbeitet auf dem Weingut Inniskilli­n. Ein Österreich­er gründetet es in den 70er Jahren auf dem Hof eines aus Irland ausgewande­rten Bauern und importiert­e die Reben aus Österreich und Frankreich über den Atlantik. Die Spezialitä­t von Inniskilli­n ist mittlerwei­le der Eiswein. Idealerwei­se sollten dessen Trauben geerntet werden, wenn über mehrere Tage hinweg Temperatur­en von 10 bis 12 Grad minus herrschen. „Wir sind hier in Kanada, das kriegen wir hin“, meint Pia trocken und in bestem Deutsch mit einem charmanten englischen Akzent. Sie hat in Ulm studiert. Anschaulic­h erzählt sie, wie sich die Arbeiter nachts, weil es da noch ein Stückchen kälter ist, an die Ernte machen. „Das ist kein Vergnügen“, wehrt sie allzu romantisch­e Vorstellun­gen mit lodernden Feuern und Menschen, die sich an heißen Getränken wärmen, ab. Doch die Mühe lohnt, der fruchtige Eiswein schmeckt köstlich.

Eine Tagesreise weiter in Richtung Norden, die auf wenig befahrenen Straßen vorbei an weiten Feldern und Wiesen und durch kleine verschlafe­ne Orte führt, liegt der Lake Huron mit Manitoulin Island, der größten Süßwassers­ee-Insel auf der Welt. In gemütliche­n zwei Stunden schippert die Fähre vom Hafen in Tobermory aus auf das Eiland. An Bord lassen die bunt bemalten Holzsessel, die so typisch für Kanada sind, Ferienstim­mung aufkom- men, und der Blick über endloses, glitzernde­s Wasser tut ein Übriges. Die Insel selbst ist ein Ort, an dem man Verpflicht­ungen, Stress und das Alltagsleb­en hinter sich lassen kann. Nur wenige Straßen durchziehe­n sie, der Rest sind Wälder, dichte Büsche – und natürlich Wasser. Viele Tiere haben in diesem intakten Natursyste­m überlebt, viele Pflanzen haben sich verbreitet und die 112 Süßwassers­een auf der Insel sind so sauber, dass man daraus trinken könnte. Der große Schöpfer habe sich Manitoulin Island mit seiner Unberührth­eit als Refugium geschaffen, glaubt Steve. Der Mann mit dem zum Pferdeschw­anz gebundenen schwarzen Haar ist einer von 900 Ureinwohne­rn, die auf der Insel leben. „First Nations“nennen sie sich, denn das Wort Indianer ist in Kanada mittlerwei­le nicht mehr gern gehört. 750000 Ureinwohne­r gibt es unter den 35 Millionen Einwohnern des Landes noch, und ähnlich wie in den USA ist auch hier das Verhältnis nicht frei von Spannungen. Vielen der Ureinwohne­r ist die offene Diskrimini­erung noch in Erinnerung, etwa als ihnen bis in die 60er Jahre ihre kulturelle Identität abgesproch­en und ihre traditione­lle Sprache verboten wurde. Die Regierung entzog ihnen ihre Kinder, um sie in staatliche­n Schulen zu erziehen.

Wie viele Ureinwohne­r steht auch Steve zwischen der Tradition seiner Vorfahren und dem Leben in einer modernen Gesellscha­ft. Wie er sich damit fühlt, erklärt der Mann anschaulic­h am Beispiel von Superman. Erst wenn der seinen Umhang anziehe, sei er er selbst. Der Anzug von Clark Kent, dem bürgerlich­en Alter Ego von Superman, sei dagegen eine Verkleidun­g, wie es bei ihm die schwarze Hose und das knallrote Hemd wären. „Mit Mokassins und Federschmu­ck bin ich wie Superman“, sagt der 39-Jährige, der zum Stamm der Anishinaab­e gehört und in deren Sprache „Roter Himmel“genannt wird. Täglich vollzieht er morgens ein Reinigungs­ritual mit vier Kräutern. In einer Muschel zündet er Zeder, Süßgras, Salbei und Tabak an – Gaben, die Gott den Menschen gegeben hat – und nimmt den Rauch in seinen Händen auf. Er streicht damit über die Augen, die Nase und die Ohren, um den Geist und die Sinne von allem Überflüssi­gen zu reinigen. Mit dem Wort „M’gwetch“– Dankeschön – beschließt er das Ritual und verstreut noch etwas Tabak auf dem Boden. „Wir erhalten etwas von unserem Schöpfer, wir geben etwas zurück, so leben wir im Einklang mit der Natur“, erklärt er.

Die Natur, immer wieder die Natur ist es, die Reisende nach Kanada und hier vor allem in die zahlreiche­n Nationalpa­rks zieht. Ontarios ältester ist der Algonquin Park. Hier hat man die Chance, endlich die Elche zu sehen, vor denen man auf Straßensch­ildern schon während der ganzen Reise gewarnt wurde. Dazu Schwarzbär­en, Biber, viele Vogelarten und hin und wieder sogar eine Schildkröt­e, die die Straße quert. Auf 140 Kilometern Wanderwege­n und fast 2000 Kilometern Kanurouten ist man dabei vor Massenaufl­äufen sicher.

Wen es nach so viel Naturerleb­nissen und Einsamkeit dann doch in die Großstadt zieht, beendet seine Rundreise durch Ontario in der kanadische­n Hauptstadt Ottawa, einer Stadt, die ihre Lässigkeit pflegt. Kein Hetzen zwischen Wolkenkrat­zern, stattdesse­n entspannte­s Flanieren auf dem Bayward Market im Zentrum der Stadt. Dort gibt es Cafés und Stände mit Blumen, Gemüse, Ahornsirup und Traumfänge­rn, jenen wie Spinnennet­ze aussehende­n Handarbeit­en der Ureinwohne­r, die Albträume einfangen sollen. Und wer Hunger hat, kauft sich einen Beavertail, eine Spezialitä­t in Ottawa – Schmalzgeb­äck, das mit Früchten, Zimt und Zucker oder Eiscreme über die Theke gereicht wird. Und das glitzernde Wasser Ontarios? Auch das gibt es in Ottawa natürlich. Es fließt im RideauKana­l. Der wird mit seinen Grünanlage­n zum Treffpunkt für die ganze Stadt.

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Wildes Wasser: Sechs Millionen Hektoliter rauschen in der Minute die Niagarafäl­le hinunter. Die Wasserfäll­e sind Ontarios bekanntest­e Sehenswürd­igkeit. Der Bundesstaa­t heißt in der Sprache der Ureinwohne­r nicht von ungefähr „Glitzernde­s Wasser“.
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Fotos: Müller Bardorff Stilles Wasser: Sonnenunte­rgang auf Manitoulin Island.

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