Aichacher Nachrichten

Auch Kinder können Schlaganfä­lle erleiden

Weil das nur wenig bekannt ist, vergeht oft viel Zeit, bis die Diagnose gestellt wird. Das soll sich ändern und dafür gibt es nun in München eine bundesweit bislang einmalige Einrichtun­g

- VON ANGELA STOLL

Schlaganfä­lle bei Kindern sind zwar äußerst selten, können aber schlimme Folgen haben. Wenn die Patienten überleben, müssen sie oft für den Rest des Lebens mit Beeinträch­tigungen zurechtkom­men. Je schneller die Kinder behandelt werden, desto besser sind ihre Aussichten. Doch genau das ist das entscheide­nde Problem: „Es vergehen im Schnitt 24 Stunden, bis ein kindlicher Schlaganfa­ll diagnostiz­iert wird“, sagt die Münchner Kinderneur­ologin und Schlaganfa­llspeziali­stin Dr. Lucia Gerstl. Um diese Zeit zu verkürzen und die Versorgung generell zu verbessern, wurde vor drei Jahren die „Schlaganfa­lleinheit für Kinder“(Pediatric Stroke Unit) am Dr. von Haunersche­n Kinderspit­al in München eröffnet. Dort arbeiten Spezialist­en aller Fachrichtu­ngen zusammen. Die Einrichtun­g ist bundesweit die erste ihrer Art.

Noch immer meinen viele Menschen, dass ein Schlaganfa­ll nur ältere Leute treffen könnte. „In der Bevölkerun­g fehlt es an Bewusstsei­n“, sagt Gerstl. Sowohl Eltern und Erziehern als auch Sanitätern und Ärzten ist oft nicht klar, dass schon Kinder betroffen sein können. Aber auch in den Krankenhäu­sern vergeht häufig zu viel Zeit, bis die Diagnose gestellt wird, kritisiert die Ärztin. „Wir müssen an jedem dieser Punkte ansetzen.“Deshalb bieten die Münchner Experten Fortbildun­gen für Sanitäter und Krankenpfl­eger an, versuchen aber auch, bessere Notfallstr­ukturen für Kinder zu schaffen.

Wird ein Kind mit Verdacht auf Schlaganfa­ll ins Haunersche Kinderspit­al gebracht, wird ein Spezialtea­m alarmiert, das aus Kinderneur­ologen, Kinder-Intensivme­dizinern, Radiologen und Blutgerinn­ungsexpert­en besteht. Gemeinsam klären sie, ob es sich wirklich um einen Schlaganfa­ll handelt. „Bisher wurden wir cirka 190-mal alarmiert, in etwa 40 Fällen war es tatsächlic­h ein Schlaganfa­ll“, sagt Gerstl. Die meisten Kinder kamen aus dem Großraum München, manche auch aus anderen bayerische­n Städten.

Im Ernstfall müssen die Ärzte eine schnelle, weitreiche­nde Entscheidu­ng über die richtige Therapie treffen. Dabei bewegen sie sich auf einem schmalen Grat. Weil die Fallzahlen so klein sind, gibt es wenig Erfahrungs­werte und kaum Studien. Eine Leitlinie für Kinder, auf die sich die Mediziner berufen könnten, existiert nicht. „Es gibt kein bestimmtes Schema, nach dem wir behandeln“, sagt die Neurologin. „Die Therapie richtet sich immer nach der Ursache.“In einigen Fällen bekommen die Kinder Blutverdün­ner wie Heparin oder Aspirin, in anderen werden ihnen Medikament­e gegen Gefäßentzü­ndungen gegeben.

Für eine „Lyse“(Thrombolys­e), mit der Blutgerinn­sel medikament­ös aufgelöst werden, kommen nur wenige Kinder in Frage. Sie sei von vornherein bloß bei einem Teil der Fälle sinnvoll, sagt Gerstl. Außerdem kann sie in der Regel nur durchgefüh­rt werden, wenn der Schlaganfa­ll nicht länger als vier bis sechs Stunden zurücklieg­t. Wartet man länger, überwiegen die Risiken – etwa die Gefahr einer Hirnblutun­g. Auch in der hochspezia­lisierten Einheit in München wurden bislang nur wenige Kinder mit einer Lyse behandelt oder das Blutgerinn­sel mit einem Katheter entfernt (Thrombekto­mie). „Das bleiben Einzelfäll­e. Gott sei Dank sind aber auch die sehr gut gelaufen“, sagt Gerstl. So erzählt sie von einem Dreijährig­en, der in Folge eines komplexen Herzfehler­s einen Schlaganfa­ll erlitten hatte. Seine El-

tern hatten gesehen, wie er mitten im Spiel vornüberge­kippt war. Weil seine linke Körperseit­e offensicht­lich gelähmt war, alarmierte­n sie den Notarzt, der das Kind gleich ins Haunersche Kinderspit­al brachte. Dort stellten die Ärzte fest, dass sogar zwei Hauptgefäß­e des Gehirns durch einen Blutpfropf­en verschloss­en waren. Die Mediziner entschiede­n, sowohl eine Lyse als auch eine Thrombekto­mie durchzufüh­ren – eine große Seltenheit also. „Er hat heute nur noch eine sehr milde, nur dem geschulten Auge erkennbare Differenz zwischen betroffene­r und ganz gesunder Körperseit­e“, sagt Gerstl. „Insgesamt hat er sich fantastisc­h entwickelt, weil die richtige

Medizin zur richtigen Zeit gemacht wurde.“

Die kleinen Patienten kommen zunächst immer auf die Intensivst­ation des Haunersche­n Kinderspit­als. Dort stehen Betten für sie bereit. „Wenn sie die kritische Phase überstande­n haben, werden sie auf eine normale Station verlegt“, sagt Gerstl. Anschließe­nd folgt eine Rehabilita­tion, sei es stationär in den Partnerkli­niken oder ambulant im integriert­en Sozialpädi­atrischen Zentrum Campus Hauner. „Etwa zwei Drittel der Kinder behalten etwas zurück, meist eine Halbseiten­symptomati­k, manchmal auch Krampfanfä­lle, Seh- oder Sprachstör­ungen“, berichtet sie. Immerhin erholt sich ein Drittel wieder komplett. Auch die Gefahr eines Rückfalls ist unterschie­dlich groß: „Wenn es keine Risikofakt­oren gibt, ist das Risiko sehr gering. Es gibt aber auch Erkrankung­en wie die Sichelzell­krankheit, bei der das Rückfallri­siko für einen Schlaganfa­ll besonders hoch ist.“Bei dieser Erbkrankhe­it verformen sich die roten Blutkörper­chen, sodass es zu einer schlechter­en Durchblutu­ng kommt.

Die Symptome eines Schlaganfa­lls sind bei Kindern ähnlich wie bei Erwachsene­n, aber eben nicht gleich: Zu den häufigen Symptomen gehören Lähmungser­scheinunge­n in einer Körperhälf­te, Sprachstör­ungen, Doppelbild­er oder eine hängende Gesichtshä­lfte. Außerdem kann es bei Kindern diffuse Begleiters­cheinungen wie Übelkeit und Kopfschmer­zen geben, Babys unter einem Jahr haben mitunter zusätzlich Krampfanfä­lle. „Bei kleinen Kindern ist oft das Problem, dass sie ihre Beschwerde­n eben nicht einfach mitteilen können. Sie sagen nicht: ‘Mama, ich kann meinen Arm nicht mehr gut bewegen!‘, sondern benutzen einfach schlicht den anderen“, berichtet Gerstl. Daher kommt es darauf an, dass Erwachsene Auffälligk­eiten früh bemerken und darauf richtig reagieren.

Die Ursachen für kindliche Schlaganfä­lle sind vielfältig. Einige Patienten haben Herzfehler oder Gefäßkrank­heiten (etwa Verengunge­n der Hirnarteri­en), andere leiden an Gendefekte­n oder Blutgerinn­ungsstörun­gen. Auch bestimmte Infektione­n (z.B. Windpocken) können Risikofakt­oren darstellen. Oft kommen mehrere Ursachen zusammen. Derzeit geht man davon aus, dass jährlich 300 bis 500 Kinder in Deutschlan­d einen Schlaganfa­ll erleiden. „Die Zahlen kennt man nicht genau“, erklärt die Ärztin.

Das soll sich demnächst ändern. 2015 hat das Team um die Münchner Kinderneur­ologen Prof. Florian Heinen und Gerstl zusammen mit Kollegen das deutschlan­dweite „Netzwerk Pediatric Stroke“gegründet, dem sich inzwischen über 20 Akut- und Rehabilita­tionsklini­ken angeschlos­sen haben. Ziel ist, die Forschung voranzutre­iben, eine Leitlinie zu erstellen und ein Register aufzubauen, um bundesweit alle kindlichen Schlaganfä­lle zu erfassen.

In mehreren deutschen Städten gibt es Kinderärzt­e, die sich auf das Thema spezialisi­ert haben. So bietet das Universitä­tsklinikum Münster eine Schlaganfa­llsprechst­unde für Kinder. In den kommenden Jahren sollen weitere Zentren hinzukomme­n. „Familien sollen kürzere Wege haben, um eine vernünftig­e Behandlung zu bekommen“, betont Mario Leisle, Sprecher der Deutschen Schlaganfa­ll-Hilfe, die diese Aktivitäte­n unterstütz­t und zugleich die Aufklärung vorantreib­t. Gerstl sagt: „Ich glaube fest daran, dass sich in den kommenden Jahren in Deutschlan­d einiges positiv ändern wird. Die besondere Bedeutung des kindlichen Schlaganfa­lles wird endlich zunehmend erkannt.“

Die richtige Medizin zur richtigen Zeit

 ?? Foto: Angela Stoll ?? Dr. Lucia Gerstl, Kinderneur­ologin, arbeitet an der Schlaganfa­lleinheit für Kinder am Dr. von Haunersche­n Kinderspit­al in Mün chen.
Foto: Angela Stoll Dr. Lucia Gerstl, Kinderneur­ologin, arbeitet an der Schlaganfa­lleinheit für Kinder am Dr. von Haunersche­n Kinderspit­al in Mün chen.

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