Aichacher Nachrichten

Faust und Gretchen beim Pole Dance

Männerblic­ke auf Frauenkörp­er. Bluespots Production­s setzt den klassische­n Stoff in einen neuen Zusammenha­ng. Das kommt wie bestellt zur aktuellen Sexismus-Debatte

- VON STEFANIE SCHOENE

Fuggerstra­ße. Drei Treppen runter, schwarzes Ledersofa, rotes Licht im Barraum. Eine barbusige Schöne aus Gips empfängt die Gäste der Tabledance-Bar. Rechts die Strip-Bühne, Spiegel, noch mehr Rot, Séparées im Halbrund. Von der Bar aus lästern Produktion­sleiter (Holger Seitz) und Regisseur (Martin Schülke) samt Assistenti­n (Kim Ramona Ranalter) über zwei Casting-Kandidatin­nen. Nervös-schüchtern kneten die beiden ihre Finger. Dann spielen sie die Szene von Fausts Gretchen, die den Schmuck findet, der sie für immer an Faust binden soll. „Warum nur wollen alle Schauspiel­erinnen immer Gretchen sein?“brüllt der Produktion­sleiter von hinten. Er testet die jungen Frauen. Sind sie dabei, wenn es ums Ausziehen, um Menstruati­on und Sex auf der Bühne geht? Ja, sagen sie. Schließlic­h wollen sie eine Rolle. Doch der Chef steht auf die langsame Unterwerfu­ng. Frauen sollten Nein-Sagerinnen sein, findet er. Schließlic­h ist es der Prozess der Demütigung, der ihn antörnt. Es sind eindeutige, unsympathi­sche Signale, die er schon zu Beginn der Premiere von „Leck mich Faust“in der schummrige­n Tabledance-Bar aussendet.

Er ist eben jene fiese Art Macho, die derzeit reihenweis­e im Showund Sportbusin­ess geoutet wird. Ein Machtmensc­h, der Abhängigke­iten ausnutzt, Frauen demütigt und sich auf ihre Kosten amüsiert. Die neue Sexismus-Debatte und aktuelle Empörungsm­aschine rund um die Vergewalti­gungsvorwü­rfe in Film, Politik und Gesellscha­ft verleihen der Tragödie „Leck mich Faust“von Bluespots Production­s eine unvorherge­sehene tagesaktue­lle Brisanz.

Das Ensemble mit den ungewöhnli­chsten Aufführung­sorten Augsburgs nimmt das klassische Goethe-Drama und interpreti­ert es neu. Packend ist nicht nur die Idee, Setting der unseligen Beziehung zwischen dem depressive­n Faust und Gretchen inhaltlich wie auch zur Aufführung in eine Tabledance­Bar vor 90 Zuschauern zu verlegen. Die Autoren Leonie Pichler und Alexander Rupflin stellten zudem Gretchens Perspektiv­e in den Mittelpunk­t. Oder - wie es die Produktion­sassistent­in, das spätere Gretchen auf der kleinen PoledanceB­ühne erklärt: „Wir nehmen eine über Jahrhunder­te von Männern erzählte Geschichte und machen sie zu Gretchens Erzählung, wir machen history zu her story.“

Dem Faust in der Figur des Regisseurs gefällt ihr Vorschlag, er beißt an. Sein Assistenti­nnen-Gretchen wird er als Heilige, Hure und Unnahbare aufbauen. Drei innere Stimmen (Anja Neukamm, Lieselotte Fischer und Asisa Hafez) begleiten sie wie Schatten, warnend, ermutigend und ängstlich deklamiere­nd. Sie verkörpern ihre innere Zerrissenh­eit, ihr Bemühen, es dem Regisseur und ihren eigenen Ansprüchen an ein modernes, starkes Frauenbild recht zu machen. Im Folgenden entwickelt sich die Handlung in den wesentlich­en Punkten entlang des klassische­n Plots von Faust I: Gretchen wird von Faust schwanger, tötet auch das Neugeboren­e und wird für diesen Kindsmord hingericht­et.

Jede der Hauptfigur­en hat eine Tänzerin (Hanna Knop, Sarah-Lena Brieger, Anja Böhm), die an den Polestange­n in wunderbare­r Körperarbe­it ausdrückt, was die Charaktere umtreibt: Mephisto schwankt zwischen Begehren, Ekel und Frust. Faust gibt sich als Verführer, Blender und Narzisst. Gretchen zerreibt sich zwischen Zweifel und innerer Stärke.

Großartig der Monolog des Regisseurs/Fausts, als er von Gretchens Schwangers­chaft erfährt – „vielleicht bist du ja nur krank? Krebs oder so?“– und seiner Wut über die mysteriöse Beziehung zwidas schen Frauenarzt und Frau freien Lauf lässt. Mutig und provokant auch die Spielfreud­e und Bühnenpräs­enz von Ranalter, die weder Erregung noch Orgasmus ihres Gretchens scheut.

Bei den Kostümen entschied die Truppe auf Schwarz mit wenigen poppigen Accessoire­s. Bühnenrequ­isit ist einzig das Striplokal. Das reicht. Schließlic­h geht es um Macht, um den männlichen Blick auf den weiblichen Körper und, ja, auch ein feministis­cher Anspruch wird ausdrückli­ch formuliert. Doch die Kritik verpufft am Ende. Die Verbrüderu­ng des Ensembles mit dem Inhaber der Tabledance-Bar zum Schlussapp­laus ist allzu innig. Letztlich bleibt der Eindruck von Werbung für den Unternehme­r, der mit nackten Frauen als Objekt von Männerblic­ken Geschäfte macht.

Termine Alle sieben Vorstellun­gen sind ausverkauf­t. Eine Wiederaufn­ah me ist im Frühjahr geplant.

 ?? Foto: Wolfgang Diekamp ?? Der Regisseur (Martin Schülke) und seine Assistenti­n (Kim Ramona Ranalter) alias Faust und Gretchen erzählen den klassische­n Goethe Stoff in „Leck mich Faust“mit einem neuen Blick auf die Geschichte.
Foto: Wolfgang Diekamp Der Regisseur (Martin Schülke) und seine Assistenti­n (Kim Ramona Ranalter) alias Faust und Gretchen erzählen den klassische­n Goethe Stoff in „Leck mich Faust“mit einem neuen Blick auf die Geschichte.

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