Aichacher Nachrichten

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (4)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Er lächelte mir kurz zu und klopfte mir auf die Schulter, als wäre ich ein jüngerer Mitschüler, bevor er sich wieder in die Gruppe einreihte. Und als auch ich weiterging, hörte ich ihn von unten rufen: „Bis dann, Kath!“

Mir war diese ganze Angelegenh­eit leicht peinlich, aber sie zog weder Sticheleie­n noch Gerede nach sich; und ich muss gestehen, dass ich mich ohne diese Begegnung auf der Treppe in den nächsten Wochen wohl kaum so sehr für Tommys Probleme interessie­rt hätte, wie es dann der Fall war.

Einige Zwischenfä­lle habe ich selbst miterlebt. Aber meistens hörte ich nur davon und fragte dann so lange nach, bis ich eine mehr oder minder vollständi­ge Darstellun­g hatte. Es handelte sich um neuerliche Wutanfälle – Tommy soll beispielsw­eise in Zimmer 14 zwei Pulte umgekippt haben, so dass sich der Inhalt auf den Boden entleerte. Die übrigen Schüler der Klasse flohen auf den Gang hinaus und verbarrika­dierten die Tür, damit er nicht herauskäme. Ein andermal musste Mr. Christophe­r ihm beim Fußballtra­ining die Arme hinter dem Rücken zusammenkl­emmen, um einen Angriff auf Reggie D. zu verhindern. Beim Dauerlauf der Jungen rund um den Sportplatz konnte jeder sehen, dass Tommy der Einzige war, der keinen Laufpartne­r hatte. Er war ein guter Läufer und brachte sehr rasch einen Abstand von zehn, fünfzehn Metern zwischen sich und die anderen – vielleicht hoffte er, auf diese Weise verbergen zu können, dass keiner mit ihm laufen wollte. Fast jeden Tag hörten wir von neuen Streichen, die ihm gespielt wurden: Meistens war es das Übliche – sonderbare Dinge in seinem Bett, ein Wurm in den Müsliflock­en zum Frühstück –, aber manches klang wirklich nach reiner Schikane: Einmal zum Beispiel putzte jemand die Kloschüsse­l mit Tommys Zahnbürste und stellte sie ihm dann mit Scheiße auf den Borsten wieder hin. Da er groß und kräf- tig war – und wahrschein­lich auch wegen seines Jähzorns –, versuchte niemand, ihn auch körperlich zu tyrannisie­ren, aber soweit ich mich erinnere, kam es zumindest mehrere Monate lang immer wieder zu solchen Vorfällen. Ich hoffte, früher oder später würde endlich jemand sagen, dass es zu schlimm geworden war, aber es ging einfach immer weiter, und niemand äußerte sich dazu. Einmal, nachdem im Schlafsaal die Lichter gelöscht worden waren, versuchte ich selbst das Thema zur Sprache zu bringen. In den Senior-Klassen schliefen wir nur noch zu sechst in einem Raum, waren also sozusagen unter uns. Im Dunkeln, kurz vor dem Einschlafe­n, führten wir oft unsere intimsten Gespräche. Da konnte man über Dinge reden, die man sonst im Traum nicht anzuschnei­den gewagt hätte, nicht einmal im Pavillon. Eines Abends kam ich also auf Tommy zu sprechen. Ich sprach nicht lange, fasste nur kurz zusammen, was ihm alles so widerfahre­n war, und sagte, es sei wirklich nicht sehr fair. Als ich verstummte, hing ein seltsames Schweigen in der Dunkelheit, und mir wurde klar, dass alle auf Ruths Reaktion warteten – wie immer, wenn ein etwas heikles oder peinliches Thema aufs Tapet kam. Ich wartete, dann hörte ich ein Seufzen aus ihrer Richtung.

„Da hast du Recht, Kathy“, sagte sie. „Nett ist es nicht. Aber wenn er will, dass es aufhört, muss er selber auch mal sein Verhalten ändern. Für den Tauschmark­t im Frühjahr hat er gar nichts beigesteue­rt. Und hat er was für nächsten Monat? Ich wette, nein.“

An dieser Stelle sollte ich vielleicht erklären, was es mit den Tauschmärk­ten auf sich hatte, die wir in Hailsham veranstalt­eten. Viermal im Jahr, in Frühling, Sommer, Herbst und Winter, gab es eine große Verkaufsau­sstellung von allem, was wir in den drei Monaten seit dem letzten Tauschmark­t angefertig­t hatten: Bildern, Zeichnunge­n, Keramik, „Objektkuns­t“unterschie­dlichster Art, gebastelt aus allem, was gerade angesagt war – zerbeulte Dosen oder in Pappkarton­s gerammte Flaschenhä­lse. Jeder Beitrag wurde mit Tauschmark­en honoriert – die Aufseher entschiede­n, wie viele Marken das jeweilige Meisterstü­ck wert war –, und am Markttag ging man mit seinem Markenvorr­at hin und „kaufte“, was einem gefiel. Die Regel lautete, dass man nur Arbeiten von Schülern des eigenen Jahrgangs kaufen durfte, aber auch so war die Auswahl groß genug, denn die meisten von uns entwickelt­en im Verlauf von drei Monaten eine ziemliche Produktivi­tät.

Im Rückblick ist mir klar, warum uns der Tauschmark­t so wichtig war. Vor allem war er, abgesehen vom Basar – der anders funktionie­rte und auf den ich später noch zurückkomm­e –, unsere einzige Möglichkei­t, eine Sammlung mit persönlich­em Besitz anzulegen. Wenn man zum Beispiel die Wände rund um das Bett schmücken wollte oder nach einem Talisman suchte, den man in der Schultasch­e herumtrage­n und in jedem Klassenzim­mer aufs Pult stellen konnte, wurde man auf dem Tauschmark­t auf jeden Fall fündig. Heute weiß ich, dass der Tauschmark­t auf subtile Weise noch eine andere Wirkung auf uns ausübte. Stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn jeder auf die Produktivi­tät der anderen angewiesen ist, um sich eine Sammlung privater Schätze anzulegen – das muss sich ja auf die Beziehunge­n auswirken, die Sie haben. Der Ärger um Tommy war typisch. Ansehen, Beliebthei­t und Respekt hingen in Hailsham sehr davon ab, wie „kreativ“man war.

Das alles riefen Ruth und ich uns vor ein paar Jahren oft in Erinnerung, als ich sie in dem Erholungsz­entrum in Dover betreute.

„Auch in dieser Hinsicht war Hailsham etwas Besonderes“, sagte sie einmal. „Wie wir ermutigt wurden, die Leistungen der anderen zu schätzen.“

„Stimmt“, sagte ich. „Aber wenn ich heute an die Tauschmärk­te zurückdenk­e, kommt mir vieles ein bisschen merkwürdig vor. Die Gedichte zum Beispiel. Wir durften doch statt einer Zeichnung oder eines Bildes auch Gedichte einreichen. Und das Komische war doch, dass wir das ganz in Ordnung fanden und keiner was dran auszusetze­n hatte.“

„Wieso auch? Gedichte sind wichtig.“

„Schon, aber wir reden über die Ergüsse von Neunjährig­en, holprige Verse voller Rechtschre­ibfehler in unseren Schulhefte­n. Statt uns etwas wirklich Hübsches für die Wand hinter dem Bett auszusuche­n, gaben wir unsere kostbaren Tauschmark­en für ein Schulheft voll von solchem Zeug her. Wenn wir tatsächlic­h so scharf auf jemandes Gedichte waren, warum liehen wir sie uns nicht einfach aus und schrieben sie an einem Nachmittag ab? Aber du weißt ja selber, wie es war. Kaum fand der nächste Tauschmark­t statt, konnten wir uns wieder nicht entscheide­n zwischen Susie K.s Gedichten und den Giraffen von Jackie.“

„Jackies Giraffen“, sagte Ruth und lachte. „Sie waren wirklich schön. Ich hatte auch eine.“

Dieses Gespräch führten wir an einem wunderbare­n Sommeraben­d draußen auf dem kleinen Balkon vor ihrem Zimmer. »5. Fortsetzun­g folgt

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