Aichacher Nachrichten

„Wir sind längst auf Zuwanderer angewiesen“

Der Ministerpr­äsident des Freistaate­s Thüringen, Bodo Ramelow, erklärt, wie er die AfD in Schach halten will. Und der Politiker der Linksparte­i spricht darüber, was wir Flüchtling­en in Zukunft abverlange­n, aber auch bieten sollten

- Interview: Simon Kaminski

Herr Ramelow, Sie führen seit 2014 als Ministerpr­äsident eine rot-rotgrüne Koalition in Thüringen. Im Bund laufen aktuell wieder Sondierung­en. Wie ungeduldig warten Sie auf eine neue Regierung?

Bodo Ramelow: Sehr ungeduldig! Die geschäftsf­ührende Bundesregi­erung arbeitet zwar weiter, aber die Zukunftsth­emen packt sie natürlich nicht an. Das ist fatal. Wir haben einige Uhren, die laut ticken. Wir brauchen dringend Entscheidu­ngen in vielen Bereichen, etwa bei der Integratio­n von Flüchtling­en und deren Finanzieru­ng. Gehen wir diese Punkte nicht entschloss­en an, können wir die Menschen, die jetzt AfD wählen, nicht zurückhole­n. Deswegen scharre ich schon mit den Hufen und sage: Wir brauchen endlich Ansprechpa­rtner dafür.

Für die Jamaika-Konstellat­ion hatten Sie ja durchaus Sympathien durchblick­en lassen. Was denken Sie über eine Neuauflage der Großen Koalition? Ramelow: Tatsächlic­h fand ich das Projekt Jamaika schon deswegen interessan­t, weil es so eine große Bandbreite der politische­n Ansätze gab. Ich hätte es spannend gefunden, ob und wie eine solche politisch weit gespreizte Koalition zum Beispiel Modelle für Probleme wie Langzeitar­beitslosig­keit entwickelt hätte.

Doch das Projekt ist ja nun Geschichte. Freuen Sie sich auf eine neue GroKo? Ramelow: Na ja. Die Protagonis­ten kennen sich alle. Alles ist eingespiel­t. Ich fürchte, dass neue gesellscha­ftliche Debatten nicht zu erwarten sind. Und ich bezweifle vor allem, dass eine Neuauflage der Großen Koalition der SPD gut bekommen wird. Mir wäre eine Minderheit­sregierung lieber. Dann müsste die Regierung sich immer neue Mehrheiten suchen, also andere Parteien mit Argumenten überzeugen. Das wäre spannend.

Sie führen eine rot-rot-grüne Koalition in Erfurt. Die scheint ja relativ geräuschlo­s zu arbeiten.

Ramelow: Ja, das liest man oft. Für mich ist das ein Kompliment. Dazu muss man wissen, dass die Medien auf meinen Kopf gewettet haben. Das Dreierbünd­nis hält keine drei Monate, hieß es. Jetzt sind es drei Jahre. Wir haben die Arbeitslos­igkeit um 30 Prozent reduziert und uns an die Spitze der ostdeutsch­en Bundesländ­er gesetzt.

Die AfD sitzt erstmals im Bundestag. Rechtsauße­n Björn Höcke führt die Partei in Thüringen. Wie gefährlich sind die Rechtspopu­listen?

Ramelow: Die Partei ist in einer Findungsph­ase. Liberale Kräfte werden herausgedr­ängt. Die Schnittste­llen zu rechtsextr­emen Kreisen sind offen. Und der Transforma­tor bei diesem Prozess heißt Höcke, der in seiner Dresdener Rede das Tor zu Rechtsextr­emismus und Antisemiti­smus weit geöffnet hat.

Wie gehen Sie in Thüringen damit um? Ramelow: Haltung zeigen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Als Höcke 2015 auf dem Erfurter Domplatz vor seinen Anhängern aufgetrete­n ist, hat die Kirche die Beleuchtun­g des Doms ausgeschal­tet. „Wir machen strahlende­n Lichter aus, wenn finstere Reden gehalten werden“, hieß es in der Begründung der Kirche. Daran gab es heftige Kritik, ich habe Hochachtun­g vor dieser Entscheidu­ng.

Und im Parlament?

Ramelow: Höcke, der ja AfD-Frakti- ist, wurde vom Landtagspr­äsidenten Christian Carius – der der CDU angehört – im Januar 2017 von einer Gedenkstun­de für die Opfer des Nationalso­zialismus ausgeschlo­ssen. Mit der Begründung, dass dessen Anwesenhei­t den Opfern der Nazis, die an der Gedenkstun­de teilnahmen, nach den Äußedie rungen von Dresden nicht zumutbar sind. Gleichzeit­ig verhängte die Leitung der Gedenkstät­te des KZ Buchenwald ein temporäres Hausverbot gegen Höcke, der dort hingehen wollte. Auch das ist Haltung.

Die CSU wirbt massiv um die Wähler, die sie an die AfD verloren hat. Und zwar nicht zuletzt mit der Forderung nach einer restriktiv­eren Flüchtling­spolitik. Ist das der richtige Weg? Ramelow: Das glaube ich nicht. Mein Vorschlag: Wir brauchen einen persönlich­en Integratio­nsvertrag mit jedem einzelnen Flüchtling. Dafür muss festgestel­lt werden, was jeder Einzelne für Fähigkeite­n und Talente hat, aber auch, ob er überhaupt willens ist, sich zu integriere­n. Dazu gehört auch, dass diejenigen, die – wie die Leute in der Kölner Silvestern­acht – unsere Werte mit Füßen treten, dafür auch entspreche­nd sanktionie­rt werden müssen. Es ist aber völlig falsch, nun alle Ausländer unter Generalver­dacht zu stellen.

Wer darf denn bleiben?

Ramelow: Es ist doch völlig verrückt, dass wir Menschen, die integriert sind und für ihren Lebensunte­rhalt sorgen können, abschieben. Wir brauchen für diese Leute, die unserem Land durchaus helfen können, abseits des Asylrechts eine weitere Option: die unbefriste­te Aufonschef enthaltsge­nehmigung. Auch in Bayern protestier­en bei Abschiebun­gen von Flüchtling­en, die in ihrem Umfeld integriert sind, sofort der örtliche Pfarrer, der Vorsitzend­e der freiwillig­en Feuerwehr und Kommunalpo­litiker, weil das niemand versteht.

Hoffen Sie wirklich, so den Facharbeit­ermangel in den Griff zu bekommen? Ramelow: Es ist doch längst so, dass wir auf Zuwanderun­g angewiesen sind. Wenn ein Rechter heute vor einer Uniklinik steht und schreit: „Ausländer raus“, muss man ihm sagen, dass die Patienten sich dann gegenseiti­g pflegen und versorgen müssen. Das erinnert mich an die Durchsage in dem Supermarkt, dem Mitarbeite­r fehlen: „Bei Fragen zu unserem Sortiment wenden Sie sich bitte an unsere Stammkunds­chaft.“

Aber ist es nicht auch richtig, dass wir die Zeche für eine verfehlte Politik der offenen Grenzen zahlen, für die die Kanzlerin verantwort­lich ist? Ramelow: Staatsrech­tlich gesehen ging das natürlich gar nicht. Jeder Flüchtling hätte – juristisch gesehen – erfasst werden müssen. Doch wenn ich mich an die Bilder der zusammenge­pferchten Menschen in Budapest erinnere, kann ich das nicht nachträgli­ch kritisiere­n. Was hätte man machen sollen?

Was muss sich denn aus Ihrer Sicht in der Flüchtling­spolitik ändern? Ramelow: Wir haben ja immerhin die erste chaotische Zeit nach der Massenanku­nft bei allen Schwierigk­eiten gut bewältigt. Das war die Phase in meiner Amtszeit, in der ich am wenigsten geschlafen habe. Die Helfer, die Kommunen – alle waren an ihrer Grenze. Jetzt müssen wir integriere­n, und zwar ohne Flüchtling­e gegen Langzeitar­beitslose oder andere Gruppen in Deutschlan­d auszuspiel­en. Wenn es uns in Deutschlan­d nicht gelingt, soziale Defizite – wie zum Beispiel die skandalöse Kinderarmu­t – erfolgreic­h zu bekämpfen, können wir diejenigen, die Hass schüren, nur schwer stoppen.

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Foto: arifoto, dpa Der erste Ministerpr­äsident Deutschlan­ds, der der Linken angehört: Bodo Ramelow regiert seit 2014 Thüringen.

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