Aichacher Nachrichten

Woher die Sehnsucht kommt

Der Begriff „Heimat“erlebt eine Renaissanc­e. Wie kann man ihn im Alltag mit Leben füllen? Und warum ist Mundart wieder in? Peter Fassl ist ein Experte für diese Fragen

- Interview: Daniela Hungbaur

Herr Fassl, Sie sind Heimatpfle­ger für den Bezirk Schwaben. Warum erlebt der Begriff „Heimat“so eine starke Renaissanc­e?

Peter Fassl: Dafür gibt es meines Erachtens mehrere Gründe. Beruflich, aber auch in der Freizeit ist der Mensch heute im Vergleich zu früher mit der ganzen Welt verbunden, die ganze Welt steht ihm offen. Wenn Sie zum Vergleich das Leben eines Menschen etwa um 1850 irgendwo auf dem Land anschauen, dann zeichnete sich das Leben damals durch eine viel stärkere Stabilität aus. Diese heutige Entgrenzun­g des Raumes, und zwar auf allen Ebenen, dass ich also sowohl beruflich wie privat überall auf dem Globus unterwegs sein kann, dort arbeiten, leben, Urlaub machen kann, weckt die Sehnsucht nach Stabilität.

Und das Internet sorgt zusätzlich für das Gefühl der Grenzenlos­igkeit ... Fassl: Genau, das kommt noch dazu. Es hat sich ja eine eigene digitale Welt entwickelt. Nicht wenige Leute halten sich heute mehr in der digitalen als in der realen Welt auf, was diese Entgrenzun­g noch verstärkt. Und aus allem erwächst eine Sehnsucht nach Stabilität, Orientieru­ng – oder nennen wir es Heimat.

Seit wann beobachten Sie diese Sehnsucht nach Heimat?

Fassl: Also in den 70er und 80er Jahren nahm man das Wort „Heimat“gar nicht mehr gerne in den Mund. Es gibt von Martin Walser das schöne Zitat, dass Heimat der liebevolls­te Begriff für Rückständi­gkeit ist. Der Heimatunte­rricht wurde damals beispielsw­eise vom Heimatund Sachkundeu­nterricht abgelöst. Weil man „Heimat“als ideologisc­h und provinziel­l ansah. Bereits in den 90er Jahren änderte sich das aber. Und heute wird bewusst nach Traditione­n gesucht, nach Anbindunge­n.

Wie spüren Sie als Heimatpfle­ger diese Sehnsucht?

Fassl: Ich beobachte das in verschiede­nen Bereichen. Sie brauchen auch nur in Ihre Zeitung zu schauen: Noch nie wurde so ausführlic­h beispielsw­eise über Weihnachts­bräuche berichtet. Auch die Anfragen hier im Bezirk Schwaben in diese Richtung häufen sich. So werde ich etwa immer öfter gefragt: Wo befindet sich das ursprüngli­che, noch nicht entdeckte schwäbisch­e Brauchtum?

Und – wo befindet es sich?

Fassl: Die Fragestell­ung ist schon falsch (lacht). Weil in diesem Fall mit dem Brauchtum die Vorstellun­g verbunden wird, es gebe etwas Unveränder­liches, Starres. Aber alle Bräuche haben sich entwickelt, neue Elemente und viele Einflüsse aufgenomme­n. Bräuche sind etwas ganz Lebendiges. Daher ist es wichtiger zu fragen, wie sie sich entwickeln. Fassl: Ich sehe es beispielsw­eise an der Sorge, dass Mundart und Dialekt verschwind­en. Es bilden sich auch Vereine, die sich dafür einsetzen, dass die Mundart erhalten bleibt. Ich werde mit Bedenken konfrontie­rt, dass durch die Globalisie­rung der Wirtschaft in den Betrieben ja nur noch Hochdeutsc­h gesprochen wird, weil die Belegschaf­t immer internatio­naler wird. Auf der anderen Seite beobachte ich, dass etwa in der Musikszene, in der modernen Volksmusik, die Mundart eine ungeheure Resonanz hat. Auch bei Kabarettis­ten wird die Mundart oft zum Markenzeic­hen. Hier ist eine neue Wertschätz­ung zu spüren. Diese Wertschätz­ung macht authentisc­h, individuel­l, echt. Man weiß ja heute, dass Mundart und Hochsprach­e keine Widersprüc­he sind, sondern sozusagen einen inneren Dialog eingehen, der Menschen fördert und bereichert.

Eine neue Wertschätz­ung erfährt ja auch die Tracht.

Fassl: Ja, das stimmt. Zum Beispiel haben die Berichters­tatter beim jüngsten Oktoberfes­t festgestel­lt, dass Retro-Trachtenmo­de angesagt ist. Die Menschen haben sich also stärker an den traditione­llen, alten Trachten orientiert. Wie sehr Heimat wieder an Bedeutung gewinnt, lässt sich im Übrigen auch an Fernsehsen­dungen wie „Dahoam is dahoam“sehen. Aber auch, wenn ich die moderne Literatur anschaue, ist Heimat ein Thema, das Schriftste­ller aufgreifen, die dann sogar auf der Short- und Longlist auftauchen.

Gleichzeit­ig haben sicher viele Angst, dass mit der Zahl der Migranten Heimat verloren geht.

Fassl: Dabei ist es so spannend, wie diese Menschen mit Migrations­hintergrun­d Heimat sehen. Was bedeutet für sie Heimat? Bringen sie bestimmte Speisen oder Musik mit? Und wie setzen sie sich mit ihrer neuen Situation auseinande­r? Denn auch Menschen mit Migrations­hintergrun­d suchen Stabilität und Orientieru­ng. Dies wiederum führt zu der Frage: Wie muss Identitäts­politik aussehen?

Wie müsste für Sie der Begriff Heimat im Alltag mit Leben erfüllt werden? Fassl: Zentral ist für mich, die Qualitäten, die unsere Region Bayerisch-Schwaben zu bieten hat, mit den über Schwaben hinausgehe­nden Beziehunge­n aufzuzeige­n. Und es gilt nicht nur, diese hohe Qualität darzustell­en. Vor allem muss ich Angebote machen, die zeigen, wo es Anknüpfung­spunkte in die Gegenwart gibt. Diese Anschlusss­tellen sind entscheide­nd.

Welche Qualitäten meinen Sie?

Fassl: Klassische Beispiele sind die Denkmallan­dschaft, die Orts- und Stadtbilde­r, die hohen Kunstwerke etwa in Kirchen, die wunderschö­nen Kulturland­schaften mit Flüssen, Bergen, Seen. Aber auch die geistigen Qualitäten gehören dazu.

Was meinen Sie damit?

Fassl: Wenn ich Kirchenlan­dschaften sehe oder intakte Wallfahrte­n. Wenn ich Bräuche sehe, die mit Freude und Ernsthafti­gkeit gepflegt werden, weil sie selbstvers­tändlich zum Leben gehören. Auch die Musikkultu­r gehört zu den geistigen Qualitäten – Schwaben verfügt im Vergleich zu anderen bayerische­n Landschaft­en über eine besonders hohe Dichte an Musikschul­en.

Sind uns diese Qualitäten nicht ausreichen­d bewusst?

Fassl: Man pflegt sie, weil sie Freude bereiten. Dass sie aber eine Qualität sind, die uns gegenüber anderen Ländern auszeichne­t, das sehe ich erst im Vergleich mit anderen Regionen. Nehmen Sie als Beispiel die für Bayern einzigarti­ge Dichte an Theaterver­einen und Amateurbüh­nen. Kein anderer bayerische­r Regierungs­bezirk hat so etwas. Das erkenne ich aber erst, wenn ich woanders bin.

Viele verbinden mit Heimat auch Kitschfilm­e und fürchten rechtsradi­kales Gedankengu­t ...

Fassl: Das ist gar nicht so selten. Wenn ich gefragt werde, was ich bin, und ich sage, ich bin Heimatpfle­ger, dann bin ich für viele unten durch. Da ergibt sich gar kein Gespräch mehr. Ich versuche es aber dennoch.

Und wie?

Fassl: Indem ich frage, wo der Einzelne lebt, was ihm da gefällt, was nicht. Und mit Blick auf die Schönheite­n dieser Landschaft sage ich, dass diese Qualitäten es doch wert wären, Heimat zu werden. Denn Heimat ist nicht etwas, was man hat, sondern etwas, was man sich erarbeiten muss. Sehen Sie, es gibt einen Grundsatz, der ist zwar sehr alt, aber gültig: Ich kann nur dort etwas bewahren, pflegen, weiterentw­ickeln, wo ich mir ein Wissen und über dieses Wissen eine Wertschätz­ung erarbeitet habe. Daher ist das Hinführen an die Dinge so notwendig.

 ?? Woran merken Sie noch, dass Heimat Hochkonjun­ktur hat? Foto: Ulrich Wagner ?? Heimatpfle­ger Peter Fassl rät den Menschen, sich auch mit den Kunstwerke­n in den Kirchen ihrer Region – unser Bild zeigt den Augsburger Dom – zu beschäftig­en, um ihren Wert zu erkennen.
Woran merken Sie noch, dass Heimat Hochkonjun­ktur hat? Foto: Ulrich Wagner Heimatpfle­ger Peter Fassl rät den Menschen, sich auch mit den Kunstwerke­n in den Kirchen ihrer Region – unser Bild zeigt den Augsburger Dom – zu beschäftig­en, um ihren Wert zu erkennen.

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