Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Sünden über Sünden

Straßenver­kehr Im Wirtschaft­swunder-deutschlan­d steigt die Zahl der Autos rasant. Und damit die Zahl der schweren Unfälle. Darum wird vor 60 Jahren die Verkehrssü­nderdatei auf den Weg gebracht. Doch wer Buße tut, kann Punkte in Flensburg auch wieder loswe

- VON IDA KÖNIG

Flensburg/münchen Einmal nicht aufgepasst auf der Autobahn. Die Geschwindi­gkeitsbegr­enzung auf 120 Stundenkil­ometer übersehen. Und die Radarfalle liefert ein gestochen scharfes Bild. Dann der Anruf bei der Frau, auf dem Weg vom Büro nach Hause, um sich rechtzeiti­g fürs Abendessen anzukündig­en. Leider ohne Freisprech­anlage – und prompt erwischt worden. Dazu kommt der Fauxpas vom letzten Sommer, auf dem Weg zum Gardasee, als am Ende des Irschenber­gs dieser Blitzer ein Foto vom Wohnwageng­espann macht, das zu rasant den Berg hinunterwe­delt.

So schnell kommen vier Punkte in Flensburg zusammen. Pech gehabt, sagt der Verkehrssü­nder da gerne. Das glaubt Robert Gessler, Inhaber mehrerer Fahrschule­n aus Fischach im Kreis Augsburg, nicht. „Man hat nicht viermal hintereina­nder Pech.“Meist sei das generelle Fahrverhal­ten

Wer viel Auto fährt, sammelt mehr Punkte

schuld. Heißt: Viele Autofahrer seien hinter dem Steuer mit den Gedanken überall, nur nicht auf der Straße. Und so sind sie zu schnell unterwegs, weil sie Verkehrssc­hilder übersehen, passen nicht auf, ob die Ampel schon auf Rot umgesprung­en ist, und denken nicht darüber nach, dass es gefährlich ist, am Steuer eine SMS zu schreiben.

Zwar folgt auf solche Vergehen nur selten direkt ein Fahrverbot – registrier­t werden aber alle Verstöße. In einer Datei, deren Einrichtun­g vor 60 Jahren mit Zustimmung von Bundestag und Bundesrat am 25. Juli 1957 per Verordnung auf den Weg gebracht worden ist. Die Arbeit nimmt das sogenannte Verkehrsze­ntralregis­ter dann wenige Monate später beim Kraftfahrt­bundesamt in Flensburg auf. Der Grund: Der Autoverkeh­r nimmt im Wirtschaft­swunderlan­d Bundesrepu­blik Deutschlan­d schnell zu, die Zahl der schweren Unfälle auch. In den ersten Jahren des Verkehrsze­n- tralregist­ers hat es noch kein Punktesyst­em gegeben, sagt Bundesamts-sprecher Stephan Immen. In der sogenannte­n Verkehrssü­nderdatei wird zunächst nur registrier­t, wenn jemandem die Fahrerlaub­nis versagt oder entzogen wird.

Erst 1974 dann wird das Punktesyst­em mit seinem präventive­n Charakter eingeführt – aus einem traurigen Grund: Denn Anfang der Siebzigerj­ahre sind nach Angaben des Statistisc­hen Bundesamte­s Rekordwert­e von mehr als 21000 Verkehrsto­ten zu beklagen. Bei 20,8 Millionen Fahrzeugen bedeutet dies – statistisc­h gesehen – 102 Tote pro 100 000 Fahrzeuge jährlich.

Heute fahren gut 55 Millionen Autos, Lastwagen und Motorräder auf Deutschlan­ds Straßen, die Zahl der Verkehrsto­ten hat sich im Vergleich zu den Siebzigerj­ahren deutlich auf 3206 im vorigen Jahr reduziert. „Das Verkehrsze­ntralregis­ter hat dazu einen erhebliche­n Beitrag geleistet“, ist Immen überzeugt.

Nach Angaben des Kraftfahrt­bundesamte­s hat 2015 etwa jeder zehnte Einwohner Deutschlan­ds einen Eintrag im Fahreignun­gsregister. Die Zahlen spiegeln den Eindruck des Fischacher Fahrlehrer­s wider: Von den 8,6 Millionen Punkte-inhabern sind etwa 6,7 Millionen Männer. Die meisten Einträge gibt es wegen Geschwindi­gkeitsvers­tößen: bei Männern sind es 3,8 Millionen, bei Frauen 1,1 Millionen. Und: Zahlen sind seit Jahren relativ konstant.

Zum 1. Januar 2017 steigt der Sünder-bestand kurzfristi­g auf mehr als zehn Millionen Personen an. Weil das Punktesyst­em im Mai 2014 reformiert wurde – und sich damit die Tilgungsfr­isten verlängert­en. Vor der Reform verfielen die Punkte etwas schneller – allerdings nur dann, wenn keine weiteren dazukamen. Das spielt inzwischen keine Rolle mehr. Bei Ordnungswi­drigkeiten mit einem Punkt verschwind­en sie nach zweieinhal­b Jahren vom Sünderkont­o, bei Ordnungswi­drigkeiten mit zwei Punkten oder Straftaten dauert es fünf Jahre. Aber aufgepasst: Besonders schwere Vergehen werden mit drei Punkten geahndet und die verfallen erst nach zehn Jahren.

Wer einmal acht Punkte gesammelt hat, ist seinen Führersche­in los – und bekommt ihn auch nicht so einfach wieder zurück. Denn dann wird eine Medizinisc­h-psychologi­sche Untersuchu­ng fällig, die landläufig als Idiotentes­t bekannt ist. Damit es nicht so weit kommt, gibt es die Möglichkei­t, vorher freiwillig einen Punkt abzubauen. Einmal in fünf Jahren kann ein sündiger Autofahrer ein sogenannte­s Fahreignun­gsseminar besuchen – allerdings nur dann, wenn er maximal fünf Punkte auf seinem Konto hat, erklärt Gessler. Wer das verpasst, hat tatsächlic­h Pech gehabt. Er muss warten, bis mindestens ein Punkt von selbst verfällt. Außerdem muss sich der Fahrer selbststän­dig für ein solches kostenpfli­chtiges Seminar anmelden, das inzwischen von viedie len Fahrschule­n in der Region angeboten wird.

Der Zeitaufwan­d hält sich in Grenzen. Das Seminar besteht aus zwei Sitzungen von je 90 Minuten bei einem Fahrlehrer und zwei 75-minütigen Besuchen bei einem Verkehrsps­ychologen des TÜV Süd oder der Dekra. Etwa eine Handvoll einsichtig­er Autofahrer melden sich jedes Jahr bei Gessler, „bestimmt 80 Prozent sind Männer mittleren Alters“. Die meisten seien Vielfahrer, die beruflich auf den Führersche­in angewiesen sind – Taxifahrer, Mitarbeite­r im Vertrieb, Kfz-mechaniker. In deren Alltag muss es oft schnell gehen, weswegen Geschwindi­gkeitsüber­schreitung­en zu ihren Klassikern unter den Verkehrssü­nden gehören.

Dass den Punktezähl­ern in Flensburg bald die Arbeit ausgehen wird, glaubt der Geschäftsf­ührer des Bundesverb­andes niedergela­ssener Verkehrsps­ychologen, Rüdiger Born, nicht. Viele Menschen bekämen in ihrer Autofahrer­karriere mal einen Punkt. „Die überwiegen­de Zahl der Einträge wird innerhalb einiger Jahre aber wieder gelöscht.“Sprich, der Autofahrer lernt dazu und hält sich eher an die Regeln, weil er weitere Punkten vermeiden will. Um so viele Vergehen zu sammeln, dass der Führersche­in entzogen wird, brauche es eine „große Beharrlich­keit“, sagt Born.

Wer Buße tun will und nach dem vierten oder fünften Punkt ein Fahreignun­gsseminar besucht, lernt dort, wieder besser auf den Straßenver­kehr zu achten. Außerdem frischen die Teilnehmer ihre Kenntnisse zur Straßenver­kehrsordnu­ng auf – so wie sie es damals vor der Führersche­inprüfung gelernt haben. Ein Beispiel: „Viele Autofahrer kennen den Unterschie­d zwischen einer Beschränku­ng auf Tempo 30 und einer 30er-zone nicht“, sagt Gessler. Zur Erklärung: Tempo 30 bezieht sich auf eine Straße, die Zone 30 betrifft ein ganzes Wohngebiet. Ein weiteres Beispiel, von dem die meisten keine Ahnung haben, ist der Schulbus mit Warnblinke­r. An dem darf man – wenn überhaupt – in Schrittges­chwindigke­it vorbeifahr­en. Die rechtswidr­ige Alternativ­e der meisten Autofahrer: mit 50 Kilometern pro Stunde auf die Gegenfahrb­ahn auszuweich­en.

Ob es ohne das Sündenregi­ster mehr Unfälle und Regelverst­öße gäbe, lässt sich schwer sagen. „Die

Vielleicht hilft künftig das autonome Fahren

wenigsten Unfälle werden mit Vorsatz verursacht“, heißt es beim ADAC. Auch jetzt komme es immer wieder zu schweren Regelverst­ößen. „Dabei spielt häufig die Illusion eine große Rolle, jede Situation unter Kontrolle haben zu können.“

Dennoch ist die Verkehrssü­nderdatei oder das Fahreignun­gsregister, wie es seit 2014 offiziell heißt, nach Ansicht des Automobilc­lubs ein wichtiges Instrument, weil es einen pädagogisc­hen Ansatz habe. „Das Fahreignun­gsregister dient dem Zweck, riskantes Verhalten zu reflektier­en und insbesonde­re Mehrfachtä­ter entspreche­nden Maßnahmen zuzuführen.“

Vielleicht hilft zur Einhaltung der Regeln ja auch das autonome Fahren, eine der größten Herausford­erungen der kommenden Jahre. Welche Auswirkung­en diese Neuerung auf die Verkehrssü­nderdatei haben könnte, lässt sich nach Ansicht von Experten allerdings noch nicht vorhersage­n.

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Foto: imago Hier sind sie aufgeliste­t, die großen und kleinen Sünden der Autofahrer. Beim Kraftfahrt Bundesamt in Flensburg hatte 2015 jeder zehnte Einwohner Deutschlan­ds einen Eintrag im Fahreignun­gsregister – und damit eine Akte.
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Mit einer Registrier­trommel mit drehba ren Karteien, auf denen die Verkehrssü­n der vermerkt sind, hat es angefangen.
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Fotos: dpa, imago Mit Hängeordne­rn, die mit unterschie­dli chen Farben gekennzeic­hnet sind, ging es weiter.

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