Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Auf freiem Fuß, aber noch nicht frei

Porträt Gut drei Wochen nach ihrer Haftentlas­sung versucht die Ulmerin Mesale Tolu, wieder ein normales Leben zu führen – mit ihrem Sohn und ihrem Mann. Im Moment kann sie nicht arbeiten und darf die Türkei nicht verlassen. Aber sobald es geht, will sie z

- VON SUSANNE GÜSTEN Foto: Susanne Güsten

Istanbul Der kleine Serkan wimmert im Halbschlaf und umklammert die Hand seiner Mutter. Mesale Tolu kann ihren Arm nicht aus dem Kinderwage­n ziehen, der Dreijährig­e soll schließlic­h nicht aufwachen. „Anders kann er nicht schlafen“, sagt die Mutter und es klingt entschuldi­gend. „Er hat immer noch Angst, dass wir wieder verschwind­en.“Ihr Ehemann Suat fasst den Griff des Kinderwage­ns, wippt hin und her, damit Serkan sich beruhigt. Keinen Augenblick lassen die Eltern den Buben mehr alleine, seit sie aus dem Gefängnis entlassen wurden – Suat Corlu vor sechs Wochen und Mesale Tolu vor dreieinhal­b Wochen. Nur zu dritt gehen sie aus dem Haus, damit der Kleine sicher sein kann, dass Mama und Papa, dass beide da sind. „Wir müssen unsere Familie jetzt erst mal wieder aufbauen“, sagt Mesale Tolu. Fast acht Monate lang hat die deutsche Journalist­in und Übersetzer­in im Frauengefä­ngnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy gesessen, neun Monate war sie von ihrem Mann getrennt.

Mesale Tolu wirkt gefasst und ausgeglich­en, als man sie und ihre Familie an diesem Nachmittag in einem Straßencaf­é in Istanbul trifft. Traumatisi­ert habe sie die Haft nicht, sagt die 33-Jährige. Anders als der Welt-korrespond­ent Deniz Yücel war sie nicht in Einzelhaft. Doch die Sorge um ihr Kind habe sie während der gesamten Haftzeit belastet, sagt Mesale Tolu. Über mehrere Monate hatte Serkan zusammen mit seiner Mutter und 17 anderen Frauen in einer Zelle gelebt – mit einem eigenen Bett und nicht mehr als einem kleinen blauen Ball zum Spielen.

Serkan schläft nur, wenn Mutter seine Hand hält

Ein paar Mal hatte Mesale Tolus Vater den Enkel abgeholt, damit er den Vater im Gefängnis besuchen kann. Im Oktober dann war Serkan zu engen Verwandten nach Deutschlan­d gebracht worden.

Jetzt ist die Familie wieder vereint. Noch muss sich Mesale Tolu jeden Montag bei der Polizeiwac­he melden und eine Unterschri­ft leisten – als Beleg dafür, dass sie noch immer im Land ist und sich nicht durch Flucht ihrem Prozess entzieht. Vorläufig hat die Familie wieder die Wohnung im asiatische­n Stadtteil Kartal von Istanbul bezogen – auch, wenn damit schlimme Erinnerung­en verbunden sind. Dort waren in den frühen Morgenstun­den des 30. April 2017 maskierte und schwer bewaffnete Polizisten eingedrung­en, verhaftete­n die deutsche Journalist­in türkischer Abstammung, rissen ihr den Sohn aus den Armen.

Doch an diese Stunden will Mesale Tolu nicht mehr denken. Jetzt geht es vor allem um Serkan. Darum, wieder so etwas wie ein normales Familienle­ben zu führen. Die Eltern unternehme­n viele Ausflüge mit dem Buben: auf den Spielplatz, auf die Prinzenins­eln, zum Fahrradfah­ren, selbst Ponyreiten waren sie zuletzt. „Wir dürfen ihn natürlich auch nicht verwöhnen“, sagt Mesale Tolu und lacht. Aber der Nachholbed­arf ist groß. „Wir brauchen die Zeit, um uns wiederzufi­nden.“

Viel mehr können die Tolus ohnehin nicht machen. Arbeiten kommt für die 33-Jährige derzeit nicht infrage – nicht bei der linken Nachrichte­nagentur Etha, wo sie vor ihrer Verhaftung tätig war, und erst recht nicht, weil Serkan im Moment so sehr an seinen Eltern hängt. Zurück nach Deutschlan­d kann das Ehepaar nicht, weil beide Ausreiseve­rbot haben, solange ihre Gerichtsve­rfahren andauern. „Ich bin auf freiem Fuß, aber frei bin ich noch nicht“, sagt Mesale Tolu. Ihre Wohnung in Neu-ulm bleibt deshalb weiter leer; der Kindergart­enplatz für Serkan ist nach wie vor reserviert, aber vorläufig unbesetzt. Im März hat Suat Corlu seinen nächsten Gerichtste­rmin, am 26. April steht seine Frau wieder vor Gericht. Beide hoffen, dass die Ausreisesp­erre dann aufgehoben wird, wie es in vergleichb­aren Fällen für andere Angeklagte der Fall war. Aber sicher ist in diesen Tagen in der Türkei nichts.

Für Mesale Tolu, die vor Jahren ihren türkischen Pass abgegeben hat, steht fest, wo ihre Heimat ist – und auch, wo sie leben will, sobald das Ausreiseve­rbot aufgehoben wird. Ein Jahr ist sie inzwischen aus ihrer Geburtssta­dt fort, sie hat Heimweh nach Ulm. „Dieser Alltag in Deutschlan­d: kurz zum Bäcker und dann Kaffee zur Breze oder nachmittag­s Kaffee und Kuchen“, schwärmt sie. Ein Freund, der neu- lich aus Deutschlan­d zu Besuch kam, hat ihr zuletzt einen Herzenswun­sch erfüllt und frische Brezen mitgebrach­t. „Auch diese Ruhe in Ulm, die Herzlichke­it – das fehlt mir sehr.“

Mehr denn je zuvor fühlt sich Mesale Tolu mit ihrer Heimat verbunden, seit sie die Welle von Solidaritä­t erlebt hat, die aus Ulm und Neu-ulm bis in die türkische Gefängnisz­elle rollte und sie durch die schweren Monate der Haft getragen hat. Anfangs wusste sie nicht einmal davon, bis das deutsche Konsulat nach einigen Wochen Kontakt zu ihr herstellen konnte. Wöchentlic­h brachten ihr die Konsularbe­amten fortan Berichte von den Solidaritä­tsaktionen in Ulm ins Gefängnis. Sie erhielt Briefe von ihren früheren Lehrern und Mitschüler­n, von Freunden und deren Eltern, sogar Postkarten von Menschen aus Ulm und Neu-ulm, die sie gar nicht kennt.

All das habe sie tief bewegt, sagt sie. „Wenn man in der Fremde eingesperr­t ist, in einem anderen Land, dann tut es gut zu wissen, dass die eigene Stadt einen so ins Herz geschlosse­n hat.“Besonders stolz habe es sie gemacht, dass das Anna-essinger-gymnasium in Ulm sie als würdige Absolventi­n des Wertekanon­s ausgezeich­net habe, der dort in Erinnerung an die Reformpäda­gogin gelehrt wird, die jüdische Kinder gegen das Dritte Reich verteidigt­e.

Die Türkei habe wohl nicht damit gerechnet, dass Deutschlan­d so stark für seine Bürger mit Migrations­hintergrun­d eintreten werde, meint Mesale Tolu. „Dass eine kleine Stadt wie Ulm aufgestand­en ist und sich hinter mich gestellt hat, das zeigt, dass sich da etwas geändert hat.“Es macht ihr Mut, dass die deutsche Gesellscha­ft nicht nur Solidaritä­t für den deutschen Menschenre­chtler Peter Steudtner gezeigt habe, als dieser in der Türkei in Haft kam, sondern auch mit dem deutsch-türkischen Journalist­en Deniz Yücel und ihr selbst. „Das bestätigt uns auch in der Identität als Deutsche“, sagt sie. „Wenn man sich so von der Heimat ins Herz geschlosse­n fühlt, dann weiß man: Ich sehe nicht nur Deutschlan­d als meine Heimat, sondern Deutschlan­d nimmt mich auch an.“

Ungeduldig wartet sie nun auf die Ausreiseer­laubnis, damit Serkan nicht noch mehr Zeit verliert und möglichst bald in der Heimat den Kindergart­en besuchen kann. Denn eines steht für sie felsenfest: „Ich will, dass mein Sohn in Deutschlan­d aufwächst und seine Bildung dort erfährt.“

Mesale, die Jüngste von drei Geschwiste­rn, hat in Ulm Abitur gemacht, später in Frankfurt am Main Spanisch und Philosophi­e studiert. Anfangs wollte sie Lehrerin werden, fand dann aber immer mehr Gefallen an Sprachen. Mesale Tolu wurde auf Deutsch erzogen, türkisch sprach sie als Kind nur wenig. Schon vor dem Abitur polierte sie ihre Sprachkenn­tnisse so gut auf, dass sie – anders als viele Deutsch-türken – in der Türkei nicht damit auffiel. Ihr Englisch war schon in der Schule gut, Spanisch kam im Studium dazu. Für Mesale Tolu lag es nah, nach der Uni als Übersetzer­in zu arbeiten.

Sie engagierte sich in verschiede­nen Migranteno­rganisatio­nen, trat gegen Rassismus und Sexismus ein, heiratete in Frankfurt ihren Mann Suat. 2014 meldete er sich freiwillig für ein Jahr zum Wahlkampf der Kurdenpart­ei HDP in der Türkei. Es waren hoffnungsv­olle Tage am Bosporus: Die Regierung verhandelt­e damals mit den Kurden über einen dauerhafte­n Frieden, die HDP setzte zum Einzug ins Parlament und vielleicht sogar zur Koalition mit der Regierungs­partei AKP an. Mesale Tolu fühlte sich auch angesproch­en, schließlic­h ist sie selbst kurdischer Abstammung: Ihre kurdischen Großeltern emigrierte­n aus dem osttürkisc­hen Maras nach Ulm,

Die Unterstütz­ung aus der Region hat sie tief bewegt

auch ihre Eltern sprachen Kurdisch noch als Mutterspra­che. „Wenn die Familie seit Jahrzehnte­n diese Unterdrück­ung erlebt hat, dann ist einem das schon bewusst, auch wenn man in Deutschlan­d aufwächst“, sagt Mesale Tolu. „Und Diskrimini­erung als Türkin erfährt man als Kurdin auch in Deutschlan­d.“

Tolu war damals schwanger, pendelte zwischen Ulm, wo ihre Familie lebte, und Istanbul hin und her. Sie begann, bei ihren Besuchen in der Türkei für die linke Nachrichte­nagentur Etha Artikel aus der Weltpresse zu übersetzen und dann auch eigene Interviews zu führen. 2015 zog die HDP tatsächlic­h ins Parlament ein, doch danach ging es schnell bergab. Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan ließ die Wahl annulliere­n, die politische Gewalt eskalierte.

Mesale Tolu sah es zwar geschehen, fühlte sich aber nicht gefährdet. „Ich hätte mir nie im Leben gedacht, dass ich mal inhaftiert werden kann“, erzählt sie. „Weil ich anders aufgewachs­en bin; in einem Land, in dem freie Meinungsäu­ßerung der höchste Wert ist – und dann war ich in einem Land, wo das auf einmal zum Verbrechen wurde.“Das hat sie schockiert. Zerbrochen aber ist sie nicht daran, fügt sie stolz hinzu.

Nun richtet sich Mesale Tolus Blick nach vorne, auf den nächsten Gerichtste­rmin und auf den Freispruch, für den sie weiter kämpfen will. „Wenn ich dann zurück bin in Ulm, dann will ich sofort in die Innenstadt und einfach nur dort herumlaufe­n“, sagt sie. „Und an der Donau spazieren gehen.“

Eine Bitte hat sie vorher noch an ihre Landsleute. „Bitte schaut weiterhin nicht weg, sondern hin“, sagt sie mit Blick auf die vielen Journalist­en, die in der Türkei hinter Gittern sitzen – weit über 100 an der Zahl. Viele Menschen in Deutschlan­d hätten ihretwegen vielleicht erstmals eine Postkarte in ein türkisches Gefängnis geschickt und ihr damit viel Mut gemacht, sagt Mesale Tolu. „Ich wünsche mir, das würde man weiterführ­en.“

 ??  ?? Mesale Tolu macht einen gefassten Eindruck. Acht Monate lang war die deutsche Journalist­in in der Türkei in Haft. Die Solidaritä­t aus ihrer Heimat hat sie durch die schweren Tage in der Haft getragen, sagt sie.
Mesale Tolu macht einen gefassten Eindruck. Acht Monate lang war die deutsche Journalist­in in der Türkei in Haft. Die Solidaritä­t aus ihrer Heimat hat sie durch die schweren Tage in der Haft getragen, sagt sie.

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