Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Clement: Es ist nicht alles in Butter in Deutschlan­d

Interview Der Politiker war Ministerpr­äsident in Nordrhein-westfalen und Bundeswirt­schaftsmin­ister. Er ist überzeugt, dass die Agenda 2010 noch segensreic­her wirken würde, wenn die Reformpoli­tik nicht zum Teil korrigiert worden wäre

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Augsburg Wolfgang Clement betritt ein Fürstenzim­mer des Augsburger Rathauses. Der 77–Jährige wirkt schlanker als früher. Der einstige Spitzenpol­itiker hält eine Rede beim Neujahrsem­pfang der schwäbisch­en Arbeitgebe­rverbände. Zuvor gibt er wie früher mit sichtlich Spaß und sonorer Stimme Interviews. Im Jahr 2008 trat Clement aus der SPD aus. Ein langer Streit war vorausgega­ngen. Er hatte von der Wahl der SPD bei den hessischen Landtagswa­hlen indirekt abgeraten, nachdem seine Parteikoll­egen dort gleicherma­ßen Atomenergi­e und Kohlekraft verteufelt haben. Heute vertritt Clement als Kuratorium­svorsitzen­der die Interessen der „Initiative Neue Soziale Marktwirts­chaft“, eine Lobbygrupp­e, die von den Metallarbe­itgeber-verbänden finanziert wird.

Herr Clement, wie geht es Ihnen? Clement: Ich musste mich heute schon aufregen.

Clement: Ich bin mit der Bahn nach Augsburg gefahren. Beim Telefonier­en brach immer wieder das Gespräch ab. So etwas darf es in einem hoch entwickelt­en Land nicht geben. Ich war unlängst in Estland. Da ist alles digital. Und jetzt sitze ich in Deutschlan­d im Zug und muss mich ärgern. Ich habe schließlic­h fünf Töchter und zwölf Enkel. Da gibt es viel am Telefon zu besprechen.

In Berlin haben Politiker von Union und SPD auch noch eine Menge zu besprechen, ehe eine Große Koalition Wirklichke­it wird. Was halten Sie von einer weiteren Aufführung der Groko? Clement: Die letzte Große Koalition war nicht gut für unser Land. Denn die Verantwort­lichen haben mit unsinnigen Beschlüsse­n wie der Mütterrent­e und der Rente mit 63 mehr für ältere Menschen als für die Zukunft Deutschlan­ds getan. Wir können aber nicht nur Geld für soziale Wohltaten ausgeben und wichtige Zukunftsth­emen wie Bildung und Forschung vernachläs­sigen. In meiner Heimat Nordrhein-westfalen sind viele Schulen in einem schlechten Zustand. Es ist also nicht alles in Butter in Deutschlan­d. So müssten wir bundesweit dringend gut 20 Milliarden Euro in die Bildung investiere­n. Mir geht es vor allem auch um die Chancengle­ichheit. Wir brauchen flächendec­kend Ganztagssc­hulen und Kitas. Auch Jugendlich­e aus bildungsfe­rnen Schichten müssen eine Aufstiegsc­hance haben.

Sie haben Karriere als Journalist ge- macht und wurden Chefredakt­eur der Hamburger Morgenpost. Dann nahm die politische Karriere kräftig Fahrt auf, und seit 2008 sind Sie als Querdenker und Mahner im Land unterwegs. In welcher Phase Ihres Lebens waren Sie am glücklichs­ten? Clement: Ich habe immer viel Glück gehabt. So habe ich, als ich das Abitur gemacht hatte, einen Chefredakt­eur kennengele­rnt, der mir mit damals 19 Jahren eine Chance gab, in den Beruf einzusteig­en. Dann habe ich die Spd-legenden Johannes Rau und Willy Brandt kennengele­rnt. So hatte ich Glück und konnte mich weiterentw­ickeln. Als Chefredakt­eur der durchlebte ich eine aufregende Zeit. Ich habe Boulevardj­ournalismu­s mühsam erlernt. In meinem politische­n Leben war die Zeit als Ministerpr­äsident in Nordrhein-westfallen toll. Denn ein Ministerpr­äsident genießt eine Unabhängig­keit, wie das in der Politik sonst nur selten der Fall ist. Die Zeit als Bundesmini­ster für Wirtschaft und Arbeit war die größte Herausford­erung.

Worin bestand die große Herausford­erung als Bundeswirt­schaftsmin­ister? Clement: Wir setzten die Reform- agenda 2010 um. Wir wollten die hohe Arbeitslos­igkeit bekämpfen. Die Zahl der Erwerbslos­en war auf Rekorde gestiegen und kletterte über die Marke von 4,8 Millionen.

Welchen Anteil hat die Agenda an der heute in Deutschlan­d insgesamt guten wirtschaft­lichen Lage? Clement: Mit Sicherheit hat die Agenda an der Überwindun­g des absoluten wirtschaft­lichen Tiefpunkts, als die New Economy 2000 eingebroch­en war, einen wichtigen Anteil. Die sozialpoli­tischen Reformen halfen, ab 2005 aus der Krise herauszuko­mmen. Die Agenda wirkt bis heute positiv, weil der Arbeitsmar­kt flexibilis­iert wurde. Leider ist manches an der überzeugen­den Reform zurückgedr­eht worden.

Zu Krisenzeit­en im Jahr 2004 haben Sie als Wirtschaft­sminister keck behauptet, dass Vollbeschä­ftigung in Deutschlan­d bis 2010 möglich ist ... Clement: ... und ich wurde für einen Idioten erklärt. Natürlich war die Aussage überspitzt, und die Weltfinanz­krise im Jahr 2008 hat verhindert, dass Deutschlan­d schneller gesundet. Ich habe mich also etwas verspekuli­ert. Aber wenn ich die weltwirtsc­haftlichen Verwerfung­en herausrech­ne, war das nicht so ganz falsch. Heute herrscht in Bayern und Baden-württember­g in vielen Regionen Vollbeschä­ftigung: Es gibt Arbeitslos­enquoten von zum Teil rund drei Prozent. Ich kenne keine Phase in der deutschen Geschichte, wo es uns wirtschaft­lich so gut ging.

Geht es weiter bergauf? Clement: Die Steuereinn­ahmen sprudeln, und es besteht die Möglichkei­t, dass auch in anderen Regionen Deutschlan­ds Vollbeschä­ftigung einkehrt. Unsere Agenda 2010 war eine gute Sache für Deutschlan­d.

SPD-CHEF Martin Schulz hat einst die Agenda 2010 unterstütz­t, sie aber im Wahlkampf kritisiert. Clement: Seine Kritik hat mich erstaunt. Ich verstehe nicht, dass er das, was wir erreicht haben, so gering schätzt. Ich verstehe auch nicht, dass sich die SPD immer noch mit der Agenda herumquält, anstatt sich auf die Bildungspo­litik zu konzentrie­ren. Denn wir bräuchten dringend eine Bildungs-agenda. Die SPD hat in den letzten Jahren aber immer nur rückwärts statt vorwärts diskutiert. Das hat Schulz im Wahlkampf besonders intensiv getan, was nicht honoriert wurde.

Sie sagten einmal, über Schulz könne man nur den Kopf schütteln. Clement: Ja, über das, was er tut. Er hat während des Wahlkampfe­s eine enorme Unsicherhe­it ausgestrah­lt. Ich denke, dass er sich stabilisie­rt, wenn die SPD die Große Koalition mitträgt. Und davon gehe ich aus. Eine Jamaika-koalition wäre aber besser gewesen. Das hätte neue Köpfe und neue Ideen gebracht. Ich bin der Meinung, dass wichtige Ämter des Staates auf zwei Wahlperiod­en beschränkt sein sollten. Sonst führt das zu Verkrustun­gen und Speichelle­ckertum. Wenn die Große Koalition jetzt nicht in Fragen der Bildungs- und Digitalpol­itik umsteuert, könnten Union und SPD zusammen sogar unter 50 Prozent fallen. Dann haben sie bei der nächsten Wahl keine Mehrheit mehr. Clement: Ich glaube, dass es da wie bei der Union noch einmal zu Veränderun­gen kommen muss.

Was halten Sie von Sigmar Gabriel? Clement: Er ist zur Zeit das herausrage­nde politische Talent der SPD.

Sind Sie trotz Ihres Parteiaust­ritts im Herzen noch Sozialdemo­krat? Clement: Angesichts der Politik, die die SPD vertritt, würde ich heute nicht mehr in die SPD eintreten.

Würden Sie zur FDP gehen? Clement: Ich bin da unsicher. Aber so, wie sich die FDP heute präsentier­t, stehe ich ihr nahe. Ich bin aber kein Fdp-mitglied. Ich halte von Parteiwech­sler-geschichte­n nichts. Heute bin ich Lobbyist der Sozialen Marktwirts­chaft und warne vor zu viel Staatseinf­luss auf die Wirtschaft.

Wann gehen Sie in Rente? Clement: Ich mache weiter.

Fragen Sie Sozialdemo­kraten nach Ihrem Rat? Clement: Wenige. Ich werde überall eingeladen, nur nicht bei Spd-veranstalt­ungen. Die befürchten sicher, dass es zu Wallungen kommt. noch

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Foto: Fred Schöllhorn Wolfgang Clement hält Sigmar Gabriel für das derzeit größte politische Talent der SPD.

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