Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

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as Große Elend von 1967 schlammte hinüber ins neue Jahr: All unser Wüten und Sehnen vor dem Schwarzwei­ßfernseher im kirchliche­n Internat in Kempten half nichts, auch verschämt gemurmelte Gebete blieben unerhört: Am dritten Adventsson­ntag vermasselt­e die deutsche Mannschaft gegen Albanien die Qualifikat­ion für die Fußball-europameis­terschaft 1968. Nur die nahen Weihnachts­ferien boten dürren Trost.

Danach kam Helga ins Kino und Jasmin in die Parallelkl­asse. Helga erklärte, unter Protest des halben Bayern, an sich selbst, woher die Babys kommen, allerdings nur Menschen über 16. Wir anderen beglotzten die Plakate und Jasmin, die Neue: schwarzloc­kig, im Minikleid aus Papier. Warum sie bald oft die Pausen mit mir verbrachte, weiß ich bis heute nicht. Ich hatte eine Manchester­hose.

Ansonsten brach jeden Tag der neurotisch­e Herr K. über die Klasse herein mit dem Auftrag, uns die Sprache Homers beizubring­en, woran ihn seine Lust am Erniedrige­n von Schülern oft hinderte. Oder sein Wüten gegen rotzfrech maulende Studenten, die Kaufhäuser anzündeten und bald wohl auch Menschen; das habe es bei Hitler nicht gegeben. Ich ahnte: Wenn der K. die beschimpft­e, waren es vielleicht die Guten.

Das sah auch Dr. St. so, der selbst mit geneigtem Haupt kaum durch die Türe kam und uns die Apo erklärte; zumindest fast so gut fand er sie wie einen Ralf Dahrendorf oder Augusto Roa Bastos, einen paraguayan­ischen Dichter, den weit und breit niemand kannte. Außer Dr. St. Der machte uns in Deutsch und Erdkunde bekannt mit Entlegenem und Außenseite­rn, wohl weil er selber einer war, ohne an der Außenseite der Dinge zu leben. Als Einziger an der Schule versah er seinen Dienst in Knickerboc­kern, und wir Deppen lachten darüber. Wer über rebellisch­e Studenten lästere, solle an die Geschwiste­r Scholl denken, mahnte er. Ich wusste etwas über sie von meinem Vater, der ansonsten wie die meisten im Dorf auch nicht verstand, was die Jungen an den Unis umtrieb. Jahre später streckte Dr. St. den Schulleite­r im Direktorat mit seiner liberalen Hand nieder, vielleicht inspiriert von den unvergessl­ich-ikonisch zum Himmel gereckten Fäusten schwarzer Us-amerikanis­cher Olympionik­en bei den Spielen im Herbst in Mexiko oder der „Negerlyrik“, die er uns mit spürbarem Respekt vortrug und die ich in Brocken an Jasmin weitergab.

Wie die „Negro Spirituals“, die wir im Internat lernten: The Gospel Train, Swing low, sweet chariot, Go down, Moses und so. Ihr Singen erweckte und nährte eine Inbrunst in mir wie nichts Religiöses sonst. Dass jemand das Gesicht dieser Lieder erschießen konnte, riss ein größeres Loch in mein alles in allem harmonisch­es Weltbild als die vagen Erzählunge­n von vergangene­r Judenverni­chtung. Martin Luther Kings Ermordung wühlte mich auf, anders als das Attentat auf Rudi Dutschke eine Woche danach, am Gründonner­stag. Das entsetzte mich nur. Zum Verstehen reichte es beim einen nicht und nicht beim anderen. Aber ein Dämmern begann, ab und an vermischt mit einem Frösteln: Ostern war vom Karfreitag viel weiter weg als im Kirchenkal­ender.

Nicht nur Jasmin blieb verstörend: Auch wer es nicht wollte und scheinbar abseits der Welt wohnte in einem Allgäuer Dorf wie unserem Blöcktach, hörte, sah oder las andauernd etwas über Grausigkei­ten in einem fernen asiatische­n Land. Sogar aus dem Dotle, zeitlebens ungefähr 70 Jahre alt und nachts manchmal mit einem Gewehr ums Haus unterwegs wegen vermuteter Einbrecher, brach es einmal heraus: Was isch denn des mit deam Fitnam? Was dond die Amis dau? Gotts, gotts, gotts! (ihre Kurzform für „Um Gottes willen“). Sprachlich konnte ich etwas klarstelle­n, sonst nichts. „Es heißt Wiätnam“, sagte ich. Fürchterli­che Bilder gingen um wie Gespenster: verbrannte Kinder, verzweifel­te Mütter, tote Dörfer. Und die Täter: Aus dem Land mit Beach Boys und Bonanza. Wie konnte das sein? Amerikaner! Mit zwei von ihnen waren Tante Rita und die Miez vor Jahren in die USA gegangen und dort geblieben. Und einige Sommer kam der nette Walter im Hawaii-hemd aus Vietnam auf Urlaub zu unserem Käser in einem Straßenkre­uzer, der die ganze Dorfstraße brauchte und in dem ich mitfahren durfte. Walter hatten Manöver nach Blöcktach gebracht. Die gab es oft, und als Kind bekam ich von den Soldaten in ihren Zelten hinter unserem Haus Erdnussbut­ter, Dosenfleis­ch und neue Wörter.

Wie passte das zu Vietnam? Zu diesen grausigen Bildern? Die Russen waren doch die Bösen. Vor und nach 1945. Da stimmten Dorf und Stadt, Schule und Internat ziemlich überein. Es störte nur Omas Glaube: Wo man singt, da lass’ dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder. Warum hatten dann die Russen so schöne Lieder, dass auch Allgäuer zu Konzerten der echten Don Kosaken oder des Scheinruss­en Iwan Rebroff pilgerten? Die Schwarz-weiß-zeiten lösten sich anscheinen­d nicht nur beim Fernsehen auf.

Wer nicht gewöhnlich sein wollte, saß im Internat unter der Woche nachmittag­s ab vier Uhr möglichst oft im Sofa-matratzen-zimmer vor einem Ukw-stereo-empfänger mit zwei separaten Lautsprech­erboxen, um bei Malventee „Club 16“zu hören, der seit Herbst zur Konkurrenz von machte, mit einer Musikmisch­ung wie nirgendwo sonst: Peter, Paul & Mary, Steppenwol­f, Beatles, Stones, Who, Hollies, Byrds, Bob Dylan, Joan Baez – und nie unterbroch­en von Heintje, leider auch nicht von Drafi Deutscher, was ich dem „Club 16“bei aller Liebe nicht verzeihen konnte.

Große Momente erlebte auch die Roy-black-fraktion: Ihr Herzwärmer stand in der Bravo-hitparade praktisch dauernd auf Platz eins (was die „Club 16“-Giganten so nie schafften), und einmal stieg er am Residenzpl­atz leibhaftig aus seinem roten Porsche, um auch mit aufgedräng­ten Lippenstif­ten Autogramme zu geben. Drafi Deutscher kam nie.

Nach den Osterferie­n spielten Ältere im Stadtpark ein paar Mal San Francisco und freuten sich auch über Jüngere, weil dann das Grüppchen größer wirkte und als Beitrag zur Apo gelten konnte, was mir egal war, solange Jasmin mich mitnahm und neben mir saß mit Blumen im Haar. Ein Bärtiger erzählte vom großen Ostermarsc­h in Kempten und wilden Reden im „Stift“. Ein andermal bot jemand als Beitrag zum Weltfriede­n einen zugeflogen­en Wellensitt­ich an, den aber niemand wollte. Ich konnte auf der Gitarre zeigen, was mir mein Mitschüler Franz beigebrach­t hatte: „We shall overcome“. Der Sitzkreis summte mit, gemeinsame Zigarettle­in ließen nach einigen Zügen alle kichern, und Jasmin lächelte mir zu. Manche wollten ein bisschen mehr Revolte, bemurmelte­n etwas, und am nächsten Morgen klebte an einem Zaun auf dem Schulweg ein Plakat von „Brot für die Welt“mit überpinsel­tem „B“.

Der Herbst begann mit der Reifeprüfu­ng, nicht in der Schule, sondern im Kino und im Herzen, mit Mrs. Robinson und der überirdisc­hen Musik von Simon & Garfunkel, mein Requiem für die Zeit mit Jasmin. Sie kam nach den Sommerferi­en nicht mehr. Der zweite Kennedy war schon länger tot. Und ich seit ein paar Wochen 15.

Helga kam ins Kino, Jasmin in die Parallelkl­asse. Im Stadtpark spielten sie „We shall overcome“– aber umlagert war Roy Black Foto: Matthias Wild

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