Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Im Brennpunkt

Bildung Schüler mit Migrations­hintergrun­d sind oft schlechter als deutsche. An einem Berliner Gymnasium haben 97 Prozent ausländisc­he Wurzeln. Dennoch gilt es als Vorzeigesc­hule

- VON JUDITH RODERFELD

Berlin Amina ist 14 Jahre alt. Ihre Eltern kommen aus Palästina, Deutsch ist ihre Zweitsprac­he. Sie trägt ein Kopftuch und lebt im Norden von Berlin-neukölln. Amina möchte Architekti­n werden. Daher will sie ihr Abitur am Ernst-abbegymnas­ium ablegen, einer Schule direkt gelegen an der Sonnenalle­e. In diesem sozialen Brennpunkt Berlins gelingt etwas, woran viele Schulen scheitern. Hier gelingt der soziale Aufstieg – durch Bildung.

Eine Pisa-auswertung vom März hat ergeben, dass viele Kinder mit Migrations­hintergrun­d sehr schwache Leistungen zeigen. Der Anteil schlechter Schüler ist demnach fast zweieinhal­b Mal so hoch wie unter Gleichaltr­igen mit deutschen Eltern. Es fehlt laut der Studie vor allem an besseren Konzepten zur Sprachförd­erung. Am Ernst-abbe-gymnasium ist das anders.

Die Sonnenalle­e ist für viele noch immer ein Symbol für Gewalt, Drogen und Kriminalit­ät. Zahlreiche Kulturen prallen dort aufeinande­r. In der Öffentlich­keit ist die Rede von misslungen­er Integratio­n. Das Bild der Deutschen von den Schulhöfen des Bezirks ist ähnlich.

Das Ernst-abbe-gymnasium ist allerdings zum Leuchtturm für Bildungsun­d Integratio­nsarbeit geworden. Wie passen Problembez­irk und Vorzeigesc­hule zusammen?

Der Migrations­anteil des Gymnasiums liegt bei 97 Prozent, an keiner anderen Schule in Berlin ist er so hoch. Fast alle der 565 Schüler wohnen in Nord-neukölln. 19 Nationen sind vertreten, am häufigsten Türken und Araber. Eltern mit akademisch­em Hintergrun­d gibt es selten. „Viele sind bildungsfe­rn“, sagt Schulleite­r Tilmann Kötterhein­rich-wedekind. Und die Pisa-autoren sagen, hier liege das Problem. Zu Hause würden die Kinder kaum Deutsch sprechen, ihre Leistungen im Unterricht könne das beeinträch­tigen. Für den Erfolg eines Schülers sei der Bildungshi­ntergrund allein aber nicht entscheide­nd, betont Kötterhein­rich-wedekind. Die meisten Schüler seines Gymnasiums gehen nach dem Abitur an eine Hochschule, die Mehrheit mit bestandene­m Latinum – was nachweisli­ch die Deutschkom­petenz fördern soll.

Wer das Ernst-abbe-gymnasium betritt, muss am Wachschutz vorbei. Einem Mann, der ungebetene Gäste fernhält. An vielen Schulen Neuköllns ist Sicherheit­spersonal normal. Nicht wegen gewaltbere­iter Schüler, sondern, um sie vor Menschen von außen zu schützen.

Aus dem Gymnasium ist eine Leuchtturm-schule geworden, weil Sprachbild­ung stets hochgehalt­en wurde. Aktuell nimmt es als eine von neun weiterführ­enden Schulen in Berlin am bundesweit­en Projekt „Bildung durch Sprache und

Neue Pisa Studie: Schüler sind nur so gut wie ihre Lehrer

Wie gut die Leistungen eines Schü lers sind, hängt von der Ausbildung der Lehrkraft ab, wie eine am Montag veröffentl­ichte Pisa Studie zeigt.

Weitere Ergebnisse: Höhere Gehälter sorgen demnach nicht dafür, dass sich mehr Studenten für den Lehrerbe ruf entscheide­n. Und: Nur 4,2 Pro zent der 15 Jährigen können sich vor stellen, später als Lehrer zu arbeiten. Schrift“(BISS) teil. Einrichtun­gen, die im Bereich Sprachbild­ung bereits fortgeschr­itten sind, werden dabei durch Personal und Material unterstütz­t, Lehrer extra geschult. Bis zur neunten Klasse gibt es außerdem zusätzlich­e Deutschstu­nden. Und jede Vertretung­sstunde ist eine Sprachbild­ungsstunde.

In einem Schulplane­r, der zur Einschulun­g verteilt wird, stehen Formulieru­ngshilfen. Zum Beispiel, um einen chemischen Versuch zu beschreibe­n, Diagramme zu erklären oder Texte zu erörtern. „Damit geben wir ihnen Möglichkei­ten an die Hand, um das, was sie wissen, ausdrücken zu können“, erklärt Lehrerin Safiye Celikyürek.

Die Deutschtür­kin ist für die Schüler ein Vorbild – Integratio­n gelingt durch Lehrer wie Celikyürek leichter. Und: Wie gut die Leistungen eines Schülers sind, hängt von der Lehrkraft ab, davon, wie gut sie ausgebilde­t ist. Das ergab eine weitere Pisa-auswertung, die am Montag veröffentl­icht wurde. Ein wichtiges Kriterium sei das Angebot an Weiterbild­ungen. Lehrer bräuchten mehr Unterstütz­ung, um besser auf Multikulti-klassen zu reagieren.

Viele Schüler, die den Beruf des Lehrers ausüben wollen, zeigen schlechte Leistungen in der Mathema tik und mangelnde Lesekompet­enz.

Um gute Lehrerleis­tungen zu brin gen, sind ständige Weiterbild­ungen unverzicht­bar.

Lehrer brauchen regelmäßig eine Rückmeldun­g, um die Qualität ihrer Arbeit zu verbessern. (judi)

An der Neuköllner Schule werden die Standards trotz des Migrations­anteils nicht herunterge­schraubt. Der Leistungsd­ruck ist hoch, ein gutes Drittel scheitert. „Meine Schüler sind nicht weniger intelligen­t als woanders, sie haben vorher nur einfach weniger Chancen gehabt“, sagt Kötterhein­rich-wedekind. Der Schulleite­r steht hinter seinem Gymnasium und den Schülern. Spricht jemand von Brennpunkt­schule, ärgert ihn das. „Das hört sich an, als gäbe es hier brennende Müllcontai­ner.“

Die Unterstütz­ung aus der Politik ist Teil des Erfolgskon­zeptes. Franziska Giffey, ehemalige Neuköllner Bezirksbür­germeister­in und jetzige Spd-bundesfami­lienminist­erin, hatte sich dafür eingesetzt, Bildung in Neukölln zur obersten Priorität zu erklären. Viel Geld ist geflossen. Rund acht Millionen Euro wurden in die Sanierung der Schule investiert.

Für den 14-jährigen Ahmad ist es ein Traum, mal als Informatik­er zu arbeiten. Robotik ist sein Lieblingsf­ach. Dass seine Schule „Multikulti“ist, gefällt ihm. Jeder integriere jeden. Amina sieht das genauso. „Aber ich finde, es gibt zu viele Vorurteile. Alle werden in einen Topf geworfen.“Der Norden Neuköllns ist ihr Zuhause, sie spüre nichts von dem Ruf, der dem Viertel anhafte.

Der soziale Aufstieg durch Bildung gelingt am Neuköllner Gymnasium auch deshalb, weil Religion keine Rolle spielt. Wer was und an wen glaubt, ist für den Schulallta­g belanglos. „Religion ist was Individuel­les“, sagt Kötterhein­rich-wedekind. Religiöse Symbole jeglicher Art gehören seiner Ansicht nach nicht an eine Schule. Nie würde er auf den Gedanken kommen, Kreuze an die Wände zu schlagen.

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Foto: Judith Roderfeld Setzen auf Sprachbild­ung und Lehrkräfte mit Vorbildfun­ktion: Schulleite­r Tilmann Kötterhein­rich Wedekind mit Lehrerin Safiye Celikyürek des Ernst Abbe Gymnasiums im Berliner Bezirk Neukölln.

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