Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Messen Sie Ihren Stress-level

Die Traditione­lle Chinesisch­e Medizin (TCM) weiß schon seit etwa 1700 Jahren, dass ein leicht unregelmäß­iger Puls ein gutes Zeichen ist. Heute kann man auch schulmediz­inisch erklären, warum das so ist. Ein Selbstvers­uch

- VON MARKUS BÄR

Illertisse­n Dass sich Schulmediz­in und alternativ­e Medizin – zumindest an manchen Stellen – immer mehr annähern, immer mehr ergänzen, ist eine derzeit ganz spannende Entwicklun­g in der Heilkunde. Natürlich gibt es noch viel unversöhnl­iches Terrain. Aber im Gegenzug auch viele Gebiete, wo sich das Ergänzen unmittelba­r besichtige­n lässt. Ein Beispiel? Die Herzratenv­ariabilitä­tsanalyse, die etwa in der Klinik für integrativ­e Traditione­lle Chinesisch­e Medizin (ITCM) Illertal in Illertisse­n angeboten wird. Der Begriff klingt sperrig und sagt vielen womöglich nichts? Das ging uns in der Redaktion auch so. Bis wir einen Selbstvers­uch wagten. Über den ich – Redakteur für das Thema Gesundheit unserer Zeitung – hier berichten möchte.

Die Versuchsan­ordnung klingt eigentlich ganz simpel. Zunächst soll mir in einem Vortrag erklärt werden, was Herzratenv­ariabilitä­t überhaupt ist. Dann wird sie bei mir gemessen. Danach bekomme ich etwa 40 Minuten Qigong, eine alte chinesisch­e Entspannun­gs- und Bewegungst­echnik, verordnet. Mit der ich noch nie im Leben etwas zu tun hatte. Schließlic­h wird die Herzratenv­ariabilitä­t gleich noch einmal gemessen. Ein Vorher-nachherver­such sozusagen.

Aber alles beginnt damit, dass ich noch Tage zuvor einen 30-seitigen – wissenscha­ftlich standardis­ierten – Stressfrag­ebogen auszufülle­n habe. Es handelt sich dabei um den TICSTEST. TICS steht dabei für „Trierer Inventar zum chronische­n Stress“. Die Fragen drehen sich etwa darum, ob ich mich in meinem Job gut und anerkannt fühle. Ob ich mich genügend bewege (ich bin ein schon fast zwanghafte­r Spaziergän­ger) oder in meiner Freizeit nur herumliege? Ob ich ausreichen­d Omega-3-fettsäuren verspeise? Wie viel Bier bei mir auf den Tisch kommt? Ob ich lieber Fisch als Fleisch esse? Ob ich mich in einer guten Partnersch­aft befin- det oder zu viel einsam bin? Beim Ausfüllen des Fragebogen­s wird mir klar, dass es mir derzeit eigentlich ziemlich gut geht. Auch Omega-3 scheine ich ausreichen­d zu mir zu nehmen.

Ich sende das Material zurück an die Klinik und die Auswertung nimmt der Ärztliche Direktor der Klinik Illertal vor. Übrigens ein klassisch schulmediz­inisch ausgebilde­ter Kardiologe. Es handelt sich um Dr. Wolfgang Pflederer, früher auch viele Jahre in der Unterallgä­uer Kreisklini­k Ottobeuren tätig – ebenfalls als Ärztlicher Direktor. Dort hatte er seinerzeit schon die TCM etabliert. Sie zog dann später mit ihm nach Illertisse­n. Unter anderem aus Platzgründ­en. Der Mediziner zeigt sich mit meinen Angaben ziemlich zufrieden. „Sie haben wenig Stress und eine hohe Resilienz.“Resilienz? Das ist ein anderer Begriff für psychische Widerstand­sfähigkeit. Also die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, weil genügend persönlich­e und soziale Ressourcen vorhanden sind. Ich zweifle da aber ein wenig: „Ich hätte in dem Test ja auch flunkern können“, denke ich mir.

Nun: Ein Fragebogen lässt sich vielleicht nicht wahrheitsg­emäß beantworte­n. Aber das vegetative Nervensyst­em (VNS) kann man nicht an der Nase herumführe­n. Es ist autonom. Und damit sind wir bei der Herzratenv­ariabilitä­tsanalyse. Die einfach und schmerzlos mit einem EKG vorgenomme­n wird. Schon vor fast 2000 Jahren erkannte der chinesisch­e Arzt Wang Shu-he, dass ein variabler Herzschlag ein Zeichen für Gesundheit ist. Variabler Herzschlag heißt in diesem Zusammenha­ng: Wenn man die Herzaktion­en über einen bestimmten Zeitraum beobachtet, dann sind die Zeitabstän­de, in denen das Herz schlägt, nicht immer gleich lang. Sie unterschei­den sich, zwar minimal, aber sie unterschei­den sich.

Warum soll das nun gesund sein? Wie man heute weiß: Je mehr das Herz einen zeitlich identische­n Takt hat – es also nicht variabel schlägt –, desto mehr regiert im Körper der Sympathiku­s. Der Sympathiku­s ist ein Teil des vegetative­n Nervensyst­ems. Und er ist zuständig für die Leistungss­teigerung des Organismus. Er versetzt den Körper in hohe Leistungsb­ereitschaf­t, bereitet ihn auf Angriff oder Flucht oder andere außergewöh­nliche Anstrengun­gen vor. Der Sympathiku­s regiert also, wenn man sehr im Stress ist. Er steigert Herztätigk­eit, Blutdruck, Durchblutu­ng und die Spannung der Herz- und Skelettmus­kulatur, die Bereitstel­lung von Energie und den Stoffwechs­el.

Der Gegenspiel­er des Sympathiku­s ist der Parasympat­hikus. Er wird auch als „Ruhenerv“oder „Erholungsn­erv“bezeichnet. Hat er die Oberhand, kann sich der Körper erholen. Er entspannt sich. Und wenn der Parasympat­hikus regiert, dann schlägt das Herz zeitlich in einem nicht so starren, festgezurr­ten Takt wie bei einem überwiegen­den Sympathiku­s. Es schlägt variabler. Das haben die Chinesen schon vor etwa 1700 Jahren festgestel­lt. Inzwischen kann man sich durch moderne kardiologi­sche Diagnostik erklären, warum die Erkenntnis­se der uralten fernöstlic­hen Erfahrungs­medizin richtig sind.

Der Selbsttest geht nun in die heiße Phase. Per EKG wird bei mir die Herzratenv­ariabilitä­t zehn Minuten lang gemessen. Dann gibt es 40 Minuten Qigong bei der Qigong-lehrerin Irmtraud Kolb-graus.

Voll guten Willens mache ich alle Übungen mit, obwohl sie mir völlig unbekannt sind. Übungen wie „Die Brust öffnen“, „Die Wolken zerteilen“oder „Den Atem regulieren“, bei denen ich etwa die Arme langsam ausbreiten muss. Immer sehr bewusst, immer mit einem sanften Lächeln auf den Lippen (um die Harmonie zu steigern). Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass das Ganze irgendetwa­s in mir bewirkt.

Anschließe­nd: wieder eine zehnminüti­ge Herzratenv­ariabilitä­tsmessung. Und Chefarzt Pflederer ist bei der Auswertung erneut voll zufrieden. Bei mir waren schon vor der Qigong-übung Puls, der Einfluss des Sympathiku­s und Parasympat­hikus im grünen Bereich (siehe Foto

unten). Nach Qigong ist die Pulsfreque­nz gesunken. Und vor allem der Einfluss des Sympathiku­s. „Ich kenne Analysen, etwa von Lehrern mit Burn-out-syndrom, bei denen der Sympathiku­s absolut überwiegt und weit in den roten Bereich ragt.“Das Problem dabei: Die Gefahr, einen Infarkt oder Schlaganfa­ll zu erleiden, steigt massiv.

Und Pflederer ergänzt: Die Analyse per EKG und meine Angaben in den Fragebögen sind definitiv deckungsgl­eich.

„Das passt genau zusammen“, sagt er. Abschließe­nd geht es noch zu dem chinesisch­en Dr. Huaquan Guan. Er ist Kräuterspe­zialist der Tcm-hochschule in der Sechs-millionen-metropole Nanjing. Nach Puls- und Zungendiag­nostik bekomme ich noch ein Teerezept gegen die Refluxkran­kheit (ständiges Sodbrennen), die ich seit Jahren mit schulmediz­inischen Präparaten in Schach halte. Doch nachdem der Reflux schon seit meiner Jugend besteht, dauert es lange, drei bis sechs Monate, bis der Tee wirkt, sagt der chinesisch­e Arzt. Mein Resümee: Ich bin beeindruck­t, wie schulmediz­inische Diagnostik und alternativ­e Medizin ineinander­greifen. Ich erinnere mich noch, wie mir vor knapp 30 Jahren ein chirurgisc­her Chefarzt im Ostallgäu einmal gesagt hat: „Naturheilk­unde, Psychosoma­tik, das alles ist nichts für einen Chirurgen. Braucht er nicht. Ist Quatsch.“Heute hört man das nicht mehr so oft. Die Zeiten ändern sich.

 ?? Fotos: Alexander Kaya ?? Die Testperson – unser Redakteur Markus Bär – hatte zum ersten Mal in seinem Leben überhaupt mit Qigong zu tun. Der 51-Jährige war nicht der Überzeugun­g, dass 40 Minuten dieser chinesisch­en Entspannun­gstechnik irgendetwa­s bei ihm bewirken würden. Die Messergebn­isse belegten etwas anderes.
Fotos: Alexander Kaya Die Testperson – unser Redakteur Markus Bär – hatte zum ersten Mal in seinem Leben überhaupt mit Qigong zu tun. Der 51-Jährige war nicht der Überzeugun­g, dass 40 Minuten dieser chinesisch­en Entspannun­gstechnik irgendetwa­s bei ihm bewirken würden. Die Messergebn­isse belegten etwas anderes.
 ?? Repro: Michael Kanert ?? Die Herzratenv­ariabilitä­tsanalyse vor (links) und nach 40 Minuten Qigong: Der lila Balken verdeutlic­ht die Herzfreque­nz, der rote (verkürzt gesagt) den Einfluss des Sympathiku­s (der „Stressnerv“) und der blaue den Einfluss des Parasympat­hikus (der „Ruhenerv“) im Körper unseres Redakteurs.
Repro: Michael Kanert Die Herzratenv­ariabilitä­tsanalyse vor (links) und nach 40 Minuten Qigong: Der lila Balken verdeutlic­ht die Herzfreque­nz, der rote (verkürzt gesagt) den Einfluss des Sympathiku­s (der „Stressnerv“) und der blaue den Einfluss des Parasympat­hikus (der „Ruhenerv“) im Körper unseres Redakteurs.
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Dr. Wolfgang Pfleiderer

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