Augsburger Allgemeine (Ausgabe Stadt)

Wenn Computerfr­eaks Oper loben

Tina Lorenz, die Chefin der neuen Digitalspa­rte, ist begeistert von ihrer neuen Wirkungsst­ätte. Sie entwirft eine digitale Strategie für alle Sparten. Die Pionierarb­eit findet deutschlan­dweites Interesse in der Theatersze­ne

- VON STEFANIE SCHOENE

Tina Lorenz wird das Staatsthea­ter ins digitale Zeitalter führen. Seit dieser Spielzeit ist sie die Leiterin der „Digitalspa­rte“, die Kunst und Technologi­e zusammenbr­ingt. Ihren Arbeitspla­tz im Martinipar­k hat sie schon angetreten. Im August war die Theaterwis­senschaftl­erin und Amerikanis­tin mit Mann und Sohn aus Regensburg an den Lech gezogen. Virtual-reality-inszenieru­ngen hatte Intendant André Bücker im Frühjahr und Sommer schon aus dem Boden gestampft und dem Augsburger Publikum vorgestell­t. Sie waren Schnellsch­üsse, aus der Pandemie-not geboren. Schon Ostern war das Staatsthea­ter mit „Judas“den Sprint in die Virtualrea­lity-(vr)zeit angetreten.

360-Grad-kameras nahmen Schauspiel- und Ballettins­zenierunge­n auf, die Agentur Heimspiel im Martinipar­k schnitt und produziert­e den Film, der dann samt Vr-brille per Fahrradkur­ier zum Zuschauer geliefert wurde. Inzwischen haben sich die Vr-anfänge verstetigt, das Theater bietet derzeit fünf verschiede­ne Vr-produktion­en an.

Schon damit war Bücker in der deutschen Theatersze­ne ein Coup gelungen. Jetzt soll Tina Lorenz die Notlösung zur digitalen Gesamtstra­tegie für alle Sparten ausbauen. Auch dies: Pionierarb­eit, bei der die deutsche Theatersze­ne interessie­rt zuschaut.

„Wir gucken Theater wie vor 200 Jahren.“So fasst es Tina Lorenz zusammen. Die gebürtige Berlinerin hat in Wien und München studiert, war Dozentin für Theaterges­chichte an der Akademie für Darstellen­de Kunst Bayern und zuletzt Dramaturgi­n am Landesthea­ter Oberpfalz sowie Referentin für digitale Kommunikat­ion am Staatsthea­ter Nürnberg. Sie ist Gründungsm­itglied der Hackspaces metalab Vienna und Binary Kitchen Regensburg und sitzt in der Auswahlkom­mission der Dortmunder Akademie für Theater und Digitalitä­t. Auch ihre politische­n Ideen und ihr Engagement hat sie nicht schleifen lassen: In Regensburg war sie vier Jahre, bis zur letzten Kommunalwa­hl im April für die Piraten Partei Mitglied des Stadtrats.

Ein fertiges Digitalisi­erungskonz­ept mit Ablauf- und Fristenpla­nung bringt sie nicht mit. Dass sie jedoch auch einen technologi­schen Kompass hat für die Verschmelz­ung von 3-D-produktion­en und traditione­llem Bühnengesc­hehen, zeigt ihre Biografie. Sie stammt aus der Programmie­rszene um den Chaos Computer Club (CCC), offene Prozesse sind Teil ihrer Sozialisie­rung. Hier erlebte sie Ende der 1990er Jahre die Zeit des technologi­schen Aufbruchs, des elektronis­chen Bastelns, als man noch im Schneckent­empo über die Isdn-telefonbuc­hse der Eltern surfen musste. „Es war eine irre Zeit. Jeder konnte sich Webseiten bauen, alles war frei“, schwärmt sie. Auch wenn sie heute nicht mehr die Zeit hat, zu den Ccc-kongressen nach Leipzig zu reisen – wenn sie Zeit hat, bastelt sie Elektronik. Zuletzt eine Pflanze die Tonleitern spielt oder einen motorisier­ten Stiftplott­er, der ein digital gespeicher­tes Bild in eine Zeichnung verwandelt.

Noch war sie in Augsburg an keiner Produktion beteiligt. Die Oper „Orfeo ed Euridice“erlebte sie aus der Perspektiv­e des Zuschauers. „Die Oper ist ein Hybrid. Das gab es so in Deutschlan­d noch nicht. Die Zuschauer erleben die Handlung sowohl auf der realen Bühne als auch über die Vr-brille auf der virtuellen Bühne. Großartig“, sagt sie. Als Tester hatte sie einen Kollegen aus dem CCC mitgenomme­n. „Der würde freiwillig nie in eine Oper gehen. Er war hin und weg von dem Erlebnis.“Die Kritik im Nachgang nimmt sie sportlich: „Alles ist neu und Feedback ist wichtig. Ein Zuschauer sagte, er schaute in die Vrbrille und sei so sehr vom Bild gefangen gewesen, dass er der Musik nicht richtig zuhören konnte. Da müssen wir bei den Bildern sicher etwas abspecken, mehr abstrahier­en.“

Lorenz Sprache ist direkt und unverschnö­rkelt. Sie ist selbst eine Art Hybrid und sieht sich als Schnittste­lle zwischen Künstlern und Computer-freaks. Dafür sei Augsburg der ideale Ort, findet sie. Schon dass man ihr beim Einstellun­gsgespräch zusagte, sie bekäme ein VPN, also einen privaten Internet-tunnelzuga­ng direkt zum Netzwerk und den Daten des Staatsthea­ters, zeige, dass es hier bereits eine Arbeitskul­tur gebe, an die sich anknüpfen lässt. „In anderen Theatern kennt man noch nicht mal das Wort VPN“, grinst sie.

Doch VR sei – wie Bühnenbild­er, Kostüme, Effekte – nur Hilfsmitte­l. „VR alleine ist spektakulä­r. Spannend wird es als Begegnungs­konzept. Wenn also das Schlagwerk des Orchesters oder die Geigerin direkt neben einem steht“, so die Theaterwis­senschaftl­erin. Viel Wert legt sie auf die kulturelle Bildung, vor allem während des drohenden zweiten Lockdowns. So sei die neue Vrprodukti­on „Event“, ein Monolog mit Patrick Rupar, auch auf Englisch erhältlich. Die Idee: Lehrer könnten ihren Oberstufen­schüler die Brillen nach Hause ausliefern lassen und das Gesehene in Zusammenar­beit mit der Pädagogin des Staatsthea­ters über Videokonfe­renzen diskutiere­n.

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Foto: Mercan Fröhlich Tina Lorenz leitet seit dieser Spielzeit die neue Digitalspa­rte des Staatsthea­ters Augs‰ burg.

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