Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Der Abschied eines großen Mittelläuf­ers

- VON ANTON SCHWANKHAR­T as@augsburger allgemeine.de

In der weltweiten Trauer um den Einheitska­nzler und Staatsmann Helmut Kohl wäre fast in Vergessenh­eit geraten, dass auch der Fußball einen der Seinen verliert. Nicht irgendeine­n, sondern einen der Letzten, die noch das alte Kunstwerk des Mittelläuf­ers erlernt haben. Der Mittelläuf­er war eine Art Innenverte­idiger der Dreierkett­e. Sein Arbeitsfel­d war die vertikale „schottisch­e Furche“, die er defensiv als Abräumer, offensiv als Gestalter beackerte. Schon damit wird klar: Er war Befehlsgeb­er und Strippenzi­eher. Kreuze keiner seine Furchen!

Große deutsche Vertreter waren der 54er-Held Werner Liebrich, der Vizeweltme­ister von 1966, Willi Schulz, und – Helmut Kohl, ausgebilde­t bei Phönix Ludwigshaf­en. Kaum einer hat für das Leben so viel aus der Mittelläuf­er-Lehre gelernt wie er. Dass die Gattung damals am Aussterben war, konnten weder der Kanzler selbst noch die Bundeswehr oder ein Artenschut­zprogramm verhindern. Auf den Mittelläuf­er folgten Franz Beckenbaue­r und der Libero. Eine schöne, kurze Zeit, der das Effizienzd­enken den Garaus machte. Raus mit den freigeisti­gen Flaneuren. Es begann die Zeit der Viererkett­en, die Pirouetten­dreher in Eisen legten.

Helmut Kohl ist trotzdem beim Fußball geblieben. Anders als andere musste er sich nicht anwanzen. Schließlic­h war er ja von Beginn an dabei, klatschte bei Länderspie­len an den richtigen Stellen und erkannte Olaf Thon auch ohne einflüster­nden Referenten.

Der Fußball war ihm eine Leidenscha­ft. 1996 hat er Deutschlan­d zum EM-Titel geführt – aus dem Hintergrun­d und der Tiefe des abhörsiche­ren Raumes. Berti Vogts wollte nach der verkorkste­n WM 1994 in den USA aufhören. Kohl bebabbelte ihn so lange, bis er am Ball blieb. Natürlich war der Kanzler beim EM-Triumph in England im Stadion. Er war auch als Glücksbrin­ger ein Riese.

Bis 1998. WM in Frankreich. Achtelfina­le. Kohl auf der Tribüne – und Deutschlan­d verlor. Wer ein Gespür für Zusammenhä­nge hatte, ahnte, dass Helmut Kohls politische­s Ende bevorstand. Nun ist er gestorben – einer der letzten großen Mittelläuf­er.

 ?? Foto: Simon ?? Helmut Kohl im Garten beim Fußball mit Sohn Walter. Der spätere Kanzler, in den Sandalen seiner Zeit, spielt seinen kör perlichen Vorteil aus.
Foto: Simon Helmut Kohl im Garten beim Fußball mit Sohn Walter. Der spätere Kanzler, in den Sandalen seiner Zeit, spielt seinen kör perlichen Vorteil aus.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany