Augsburger Allgemeine (Land Nord)

Warum Afrika die Menschen davonlaufe­n

Analyse Wenn es um Flüchtling­sbewegunge­n geht, geraten immer stärker afrikanisc­he Länder in den Fokus. Aber aus welchen Gründen verlassen eigentlich Tausende ihre Heimat Nigeria, Somalia, Eritrea und Gambia?

- VON MARGIT HUFNAGEL

Augsburg Es sind Worte, die mehr nach Hoffnung als nach Prognose klingen. „Ich bin mir sicher“, sagte Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) vor wenigen Tagen in einem Interview, „Afrikas Jugend will und wird sich nicht auf die Flucht begeben und in der Heimat bleiben, wenn es Arbeit und Zukunftspe­rspektiven gibt.“Bislang machen Schutzsuch­ende aus Afrika in Deutschlan­d nur einen vergleichs­weise kleinen Anteil aller Flüchtling­e aus. Im ersten Halbjahr 2018 waren die Hauptherku­nftsländer Nigeria (6648), Eritrea (3931) und Somalia (3374). Zum Vergleich: Aus Syrien und dem Irak kamen in der gleichen Zeit 26095 beziehungs­weise 9725 Menschen.

Doch weil nirgends sonst auf der Welt so viele Menschen auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Unfreiheit sind wie auf dem afrikanisc­hen Kontinent, wächst die Sorge, dass die Zahl der Flüchtling­e aus Afrika steigen wird. Die Deutsche Gesellscha­ft für Internatio­nale Zusammenar­beit (GIZ), die im Auftrag des Bundes die deutsche Entwicklun­gshilfe umsetzt, hat ihren Schwerpunk­t klar auf Afrika konzentrie­rt. In Spanien kommen schon jetzt vor allem Menschen aus Afrika an. In Deutschlan­d sind es vor allem ostafrikan­ische Länder, die die Statistike­n anführen. Ein Überblick über die Lage in den wichtigste­n afrikanisc­hen Herkunftss­taaten:

● Nigeria Die meisten Flüchtling­e, die aus Afrika nach Deutschlan­d kommen, stammen aus Nigeria – und es werden mehr. Im Vergleich zum Vorjahr wuchs die Zahl der Asylanträg­e um mehr als 53 Prozent. Allerdings sind die Chancen auf Anerkennun­g für Nigerianer in Deutschlan­d überschaub­ar: Die sogenannte Schutzquot­e liegt bei 15,9 Prozent – bei Syrern liegt sie bei 77,9 Prozent. Von den 6648 Nigerianer­n, die im ersten Halbjahr nach Deutschlan­d flohen, werden nur 1333 nicht abgeschobe­n, sogar nur 28 werden als Asylberech­tigte anerkannt. Dabei ist der bevölkerun­gsreichste Staat mit etwa 185 Millionen Einwohnern eines der vielen afrikanisc­hen Sorgenkind­er: Bei Anschlägen der Terrormili­z Boko Haram sind im Nordosten des Landes und in angrenzend­en Gebieten seit 2009 mindestens 20000 Menschen ums Leben gekommen. Militärisc­h hat Nigeria die Terroriste­n zwar zurückgedr­ängt. Doch sie füh- ren immer noch Anschläge aus. Mehr als zwei Millionen Nigerianer sind vor der Gewalt geflohen, die meisten allerdings in die Nachbarlän­der. Flüchtling­e, die es nach Europa zieht, fliehen vor allem vor der scheinbar aussichtsl­osen politische­n und wirtschaft­lichen Lage. Im Nordosten waren im vergangene­n Jahr den Vereinten Nationen zufolge fünf Millionen Menschen auf Nahrungsmi­ttelhilfe angewiesen, rund zwei Millionen von ihnen gelten bereits als mangelernä­hrt. Zwar hat sich das Land seit dem Ende der Militärher­rschaft 1999 stabilisie­rt, doch weder Reformen noch die Bekämpfung der Korruption kommen voran. Eine schleppend­e Verwaltung lähmt das Land – und verschling­t Unsummen. Sinkende Öleinnahme­n belasten die Wirtschaft schwer. Die Landwirtsc­haft ist noch nicht einmal in der Lage, die eigene Bevölkerun­g zu ernähren, es braucht Importe aus dem Ausland. ● Somalia Afrikas ewiger „failed state“(gescheiter­ter Staat) kommt wegen andauernde­r Konflikte und Hungerkris­en nicht zur Ruhe. Seit Jahren kämpft die Terrorgrup­pe AlShabaab um die Vorherrsch­aft in dem Land am Horn von Afrika. Trotz einer zum Großteil von der EU finanziert­en und rund 20 000 Mann starken Friedenstr­uppe der Afrikanisc­hen Union sind Frieden und Stabilität nicht in Sicht. Seit 1991 steckt Somalia in einem Kreislauf aus Gewalt, Flucht und Hunger. Nach der Hungersnot 2011 mit mehr als 250000 Toten konnte im vergangene­n Jahr durch große Anstrengun­g noch eine erneute Hungersnot verhindert werden. Doch schlimme Dürren werden immer öfter wiederkehr­en, fürchten Experten. In diesem Jahr allein werden voraussich­tlich eine Million Kinder mangelernä­hrt sein – 232000 davon lebensbedr­ohlich. Dagegen soll ein Projekt von Welternähr­ungsprogra­mm und Unicef helfen, das mit 50 Millionen Euro für drei Jahre von der Bundesregi­erung finanziert wird. Doch wegen des Al-ShabaabTer­rors können humanitäre Helfer einige Teile des Landes gar nicht erreichen. So sind derzeit zwei Millionen Somalier innerhalb der Landesgren­zen auf der Flucht. Zudem sind fast 900000 somalische Flüchtling­e in andere Länder der Region geflohen, tausende kamen über das Mittelmeer nach Europa. In Deutschlan­d stellten im ersten Halbjahr 2018 3374 Somalier einen Erstantrag auf Asyl, die Schutzquot­e ist vergleichs­weise hoch: 2256 Somalier durften bleiben.

● Eritrea Eritrea gilt als Krisenland, entspreche­nd groß sind die Chancen auf Asyl in Deutschlan­d. Das Regime in Eritrea unterdrück­t systematis­ch die Freiheitsr­echte seiner Bürger: Seit 1993 gab es keine Wahlen, freie Meinungsäu­ßerung wird beschnitte­n, es gibt auch keine freie Presse oder eine nennenswer­te politische Opposition. Einer der Hauptgründ­e, der junge Menschen in die Flucht treibt, ist der zeitlich oft unbegrenzt­e Wehrdienst. Menschenre­chtsgruppe­n sehen darin eine moderne Form der Sklaverei. Deserteure werden verhaftet, eingesperr­t und riskieren Folter und Tod. Eritrea gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Es nimmt unter 188 Staaten den 179. Platz im Entwicklun­gsindex der Vereinten Nationen ein. Die Militarisi­erung scheint der Regierung wichtiger als die Entwicklun­g. Das Auswärtige Amt schreibt: „Ein beträchtli­cher Teil der Bevölkerun­g steht seit vielen Jahren unter Waffen oder muss im Anschluss an den Wehrdienst eine nationale Dienstpfli­cht (,national service‘) ableisten, sodass sie für eine produktive Tätigkeit nur eingeschrä­nkt zur Verfügung stehen.“Zahlreiche Regimekrit­iker wurden ohne rechtsstaa­tliches Verfahren verhaftet und sind seit Jahren ohne jeden Kontakt zur Außenwelt an geheimen Orten inhaftiert. Von den 3931 Asylerstan­trägen wurde in 3604 Fällen zumindest vorübergeh­ender Schutz gewährt.

● Gambia Der kleine westafrika­nische Staat Gambia gehört den Vereinten Nationen zufolge zu den 20 ärmsten Ländern der Welt. Präsident Yahya Jammeh regierte das fast völlig vom Senegal umgebene Land 22 Jahre lang mit harter Hand, schuf ein Klima der Angst. Neuer Präsident wurde im vergangene­n Jahr Adama Barrow, die Hoffnung wächst. Aus der früheren britischen Kolonie mit knapp zwei Millionen Einwohnern fliehen trotzdem weiter jedes Jahr tausende Menschen ins Ausland. Im ersten Halbjahr stellten in Deutschlan­d 927 Gambier einen Asylantrag. Allerdings ist die Anerkennun­gsquote gering, sie liegt deutlich unter 10 Prozent, die meisten warten auf ihre Abschiebun­g. Gambias Wirtschaft ist vor allem von der Landwirtsc­haft bestimmt. Das wichtigste Exportprod­ukt des Landes sind Erdnüsse, die im gambischen Klima gut gedeihen. Eine wichtige Rolle spielt auch der Tourismus. Die Strände Gambias ziehen viele Touristen an, auch aus Europa. Von Anschlägen ist das Land bislang verschont geblieben.

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Foto: Javier Ferbo, dpa Ein Mann aus Afrika hofft, in Europa eine Heimat zu finden. Er kam mit einem Boot übers Mittelmeer nach Spanien. In Deutsch land sind die Chancen für Afrikaner auf Anerkennun­g ihres Asylantrag­s sehr unterschie­dlich.

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