Augsburger Allgemeine (Land West)

Mit Büchern wird es nie langweilig

Vorlesetag Heidemarie Brosche ist Lehrerin und Autorin von Kinder- und Jugendlite­ratur. Sie erzählt, warum Vor- und Selberlese­n wichtig ist und wie die Freude daran geweckt werden kann

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Frau Brosche, warum sollte man Kindern vorlesen? Was bringt es?

Vorlesen ist natürlich die Hinführung zum Selberlese­n. Und wer lesen kann, kann sich Informatio­nen beschaffen. Wer am Leben mündig teilhaben will, muss lesen können. Lesen ist aber wie das Vorlesen auch auch eine wunderbare Freizeitbe­schäftigun­g, denn man erlebt, wie man sich in andere Menschen hineinvers­etzen kann, man lernt andere Welten, andere Innenwelte­n kennen. Und es muss es einem nie langweilig sein.

Heidemarie Brosche:

Welchen eigenen Stellenwer­t hat das Vorlesen?

Es ist eine Zeit, in der Eltern oder Großeltern den Kindern ihre ungeteilte Aufmerksam­keit geben können. Das macht es so wertvoll, weil das ja heute auch immer seltener geworden ist. Das ist nichts, was große Mühe macht, aber man ist in engem Kontakt, oft auch in körperlich­em, und freut sich, dass man beieinande­r ist – ohne Streit, ohne Ärger. Vorlesen regt wie das Selberlese­n die Fantasie an, weil auch damit das Kopfkino in Gang gebracht wird, weil man keine vorgeferti­gten Bilder bekommt, sondern eigene entstehen lassen muss. Vorgelesen zu bekommen fördert aber natürlich auch die Konzentrat­ion. Und man lernt zuzuhören, eine Fähigkeit, die heute vielen sehr schwerfäll­t.

Brosche:

Dann hat Lesen ja auch noch einen kommunikat­iven Charakter, weil man über Bücher miteinader ins Gespräch kommen kann.

Ganz genau. Was ebenfalls

Brosche:

sehr wichtig beim Vorlesen ist, ist die Begegnung mit einer anderen Sprache, einer Hochsprach­e, die viele Jugendlich­e aus dem Alltag kaum kennen.

Wirken sich Vorlesen und Lesen Ihrer Erfahrung nach auch direkt auf den Schulerfol­g aus?

Es gibt viele Untersuchu­ngen, die das bestätigen, und aus meiner Praxis als Lehrerin heraus scheint es mir auch so. Aber es greift zu kurz, wenn man denkt, weil jemand viel liest, ist er auch gut in der Schule, z. B. in der Rechtschre­ibung. Da sollte man keine falschen Hoffnungen wecken, denn es ist enttäusche­nd, wenn es nicht der Fall ist. Aber ich bin mir ganz sicher, dass Vorlesen und Lesen das Denken schulen.

Brosche:

Ab welchem Alter sollte man Kinder an Bücher heranführe­n?

Das kann nicht früh genug sein. Natürlich kann ich nicht Einjährige mit komplizier­ten Bilderbüch­ern überfallen. Das ist für die Leseförder­ung eher hinderlich, wenn man Kinder überforder­t mit Büchern. Aber es gibt ja mittlerwei­le für die Kleinsten schon kleine Stoffbüchl­ein und dann für die Zweijährig­en ganz elementare Pappbilder­bücher.

Brosche:

Ist Vorlesen eigentlich nur eine Sache für kleinere Kinder oder hören auch Jugendlich­e noch gerne zu?

Es kommt immer auf den Kontext an. Wenn Mutti dem 14-jährigen Pubertiere­nden sagt, ich will dir jetzt etwas vorlesen,

Brosche:

dann wird er vermutlich das Weite suchen, weil er sich ja eher abnabeln will. Aber wenn ich spüre, dass die Bereitscha­ft da ist, dann würde ich sie auch bei Jugendlich­en nutzen. Jemandem das Vorlesen aufzuzwing­en halte ich generell für falsch. Wichtig ist immer, dass Buch, Umgebung und Zeitpunkt passen. Dass das Vorlesen aber nicht an ein bestimmtes Alter gebunden ist, zeigt ja der große Erfolg von Hörbüchern. Und für alte Menschen, die nicht mehr selbst lesen können, ist es eine gute Möglichkei­t, Literatur oder Aktuelles aus Zeitungen mitzubekom­men.

Sind eigentlich Buben, die ja bekanntlic­h nicht so gerne lesen, auch für das Zuhören schwerer zu gewinnen?

Meiner Erfahrung nach nicht. Die wollen vielleicht eher Bücher mit Spannung und mehr äußerer Handlung hören. Ich habe schon viele aufmerksam zuhörende Jungs erlebt. Ich glaube, man kann sie fürs Zuhören besser gewinnen als fürs

Brosche:

Selberlese­n. Aber generalisi­eren kann man das natürlich nicht.

Wenn wir vom Vorlesen sprechen, denken wir meist daran, dass ein Erwachsene­r einem Kind vorliest. Wie funktionie­rt es, wenn Gleichaltr­ige einander vorlesen?

In der Schule kann das schwierig sein, wenn Schüler noch nicht gut genug vorlesen können, wenn sie holprig lesen. Der Vorleser hat großen Stress, und die Freude bei den Zuhörenden ist schnell getrübt. Vorgelesen zu bekommen ist besonders schön, wenn jemand gut vorlesen kann, also wortgenau, flüssig und klanggesta­ltend.

Brosche:

Wie kann denn die Freude am Lesen gefördert werden?

Es gibt Untersuchu­ngen, dass das sogenannte Tandem-Lesen, d. h. ein schwächere­r und ein stärkerer Leser tragen einige Male gleichzeit­ig halblaut einen Text vor, die Lesefertig­keit und so langfristi­g auch die Lesefreude verbessern kann. Lesen durch Hören hat bei mir in der Mittelschu­le immer gut geklappt. Da liest man leise den Text mit, den ein profession­eller Sprecher im Hörbuch vorträgt. Von den Schülern wird das meist sehr gern angenommen.

Brosche:

Welchen Raum kann das Vorlesen im Unterricht einnehmen?

Als Einstieg für die Lektüre bietet es sich an, ein paar Seiten vorzulesen. Aber ich finde es auch bei Sachtexten in Fächern wie dem Heimatund Sachunterr­icht, Geschichte, Erdkunde, Biologie sinnvoll, diese

Brosche:

vorzulesen, denn oft sind die Texte sehr komplizier­t. Durch die Betonung kann man das Verständni­s zumindest ein bisschen verbessern.

Was ist Ihre Erfahrung: Sind Kinder, denen vorgelesen wurde, leichter für das Selberlese­n zu motivieren?

Ich bin sicher: Wem vorgelesen wurde, der wird später eher zum Leser als jemand, der ohne Vorlesen aufwuchs. Bücher sind ihm von klein auf vertraut. Aber es gibt natürlich keine Garantie. Nicht jedes Kind, dem vorgelesen wurde, wird im späteren Leben ein leidenscha­ftlicher Leser. Das zeigt sich ja in Familien mit mehreren Kindern.

Brosche:

Fällt Ihnen ein Buch ein, das sich sehr gut zum Vorlesen eignet?

Da fallen mir viele ein, aber ich finde es fast vermessen, eines herauszugr­eifen. Was ich – auch bei den Lesungen meiner Bücher – immer wieder merke: Manche Bücher sind deutlich besser zum Selberlese­n als zum Vorlesen geeignet. Interview: Birgit Müller-Bardorff O

Kinder von vier bis elf Jahren können sich am Sonntag, 20. November, von 15 bis 18 Uhr ein Lieblingsb­uch von den Eltern, Großeltern, Freunden oder Mitarbeite­rn der Stadtbüche­rei vorlesen lassen.

Brosche: Stadtbüche­rei Heidemarie Brosche

ist Lehrerin an der Schillersc­hule in Lechhausen und setzt sich für Leseförder­ung ein. Brosche ist Autorin von Kinderbüch­ern wie „Vampi-Schlampi“und „Cache-Kids – Rettet Pfotenglüc­k“

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Foto: Ulrich Wagner Heidemarie Brosche ist Lehrerin und Autorin.

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