Augsburger Allgemeine (Land West)

Schon der Kaiser sagte: „Wir schaffen das“

Migration Was haben die Flüchtling­e Europas mit dem Ende des Römischen Reiches zu tun? Der Blick zurück taugt nicht

- VON STEFANIE SCHOENE

Völkerwand­erung? Europa überrannt von Flüchtende­n wie damals das Römische Reich von den Barbarenst­ämmen? In einschlägi­gen Kreisen liegen solche Töne derzeit im Trend. Im Rahmen seines Vortrags „Ethnischer Roadtrip oder Geschehen von Vertreibun­g und Gewalt? Die Völkerwand­erung“nahm sich Martin Kaufhold, Ordinarius für Mittelalte­rliche Geschichte an der Universitä­t Augsburg, diese Thesen vor. Sein Bogen reichte von 375 bis 450 n. Chr., vom Vorpresche­n der Hunnen über die dadurch ausgelöste­n Fluchtbewe­gungen der Langobarde­n, Vandalen, Sueben, Franken sowie der West- und Ostgoten Richtung Italien und Spanien bis zum Tod des Hunnenköni­gs Attila und dem Untergang des Römischen Reiches.

Die Hunnen, denen sich die Ostgoten anschlosse­n, versetzten innerhalb von 30 Jahren die gesamte Region zwischen dem Nordrand des Schwarzen Meeres und dem heutigen Frankreich in Bewegung. Die Westgoten flohen vor den Hunnen an die Donau, baten um Aufnahme in das Römische Reich. Der Kaiser, erklärt Kaufhold, sagte: „Wir schaffen das“und setzte sie wegen Soldatenma­ngels vor allem zur Grenzsiche­rung ein. Misswirtsc­haft und Lebensmitt­elknapphei­t in den „Aufnahmela­gern“der Goten sorgten jedoch für einen Aufstand, sie erhoben sich gegen ihre Bewacher und schlugen die oströmisch­en Truppen bei Adrianopel vernichten­d. Diese Niederlage und die Plünderung Roms 410 n. Chr. gelten als Anfang vom Ende des weströmisc­hen Reichs. Vandalen-Verbände aus Nordeuropa brachten sich zeitgleich Richtung Süden und Westen vor den Hunnen in Sicherheit und durchbrach­en ebenfalls die römischen Grenzen. Da sie in Spanien mit den dort bereits siedelnden Westgoten in Konflikt gerieten, setzten sie bei Gibraltar über nach Afrika und nahmen Karthago ein. Rom versuchte, die Grenzen zu sichern, scheiterte jedoch.

Diese Stämme, die in lockeren Verbänden ins Römische Reich sickerten, waren keine ethnischen Einheiten. Zu „Völkern“wurden sie erst, als sie mit „den anderen“, den Römern, in Konflikt gerieten. Ihre Gruppenide­ntität, so erklärt Kaufhold, speiste sich aus heutiger Sicht aus Rechtstrad­itionen und -werten. Wer sich an diese hielt, gehörte dazu. Von gezielter „ethnokultu­reller Zersetzung“des Römischen Reiches, wie Apologeten es mit Blick auf Europa gerne nennen, könne also keine Rede sein.

Wie sich die Stämme selbst sahen, ist völlig unbekannt. Quellen gibt es nur von der anderen Seite. Bezeichnun­gen wie „Geißel Gottes“waren weit verbreitet. Die Geschichte dieser Völkerwand­erung sei unvollstän­dig und verzerrt. Für eine Gegenübers­tellung tauge sie nicht. Das Urteil des Historiker­s: „Die heutigen Fluchtbewe­gungen sind nur mit Intelligen­z, nicht mit instrument­alisierten Vergleiche­n zu bewältigen.“

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