Augsburger Allgemeine (Land West)
Schon der Kaiser sagte: „Wir schaffen das“
Migration Was haben die Flüchtlinge Europas mit dem Ende des Römischen Reiches zu tun? Der Blick zurück taugt nicht
Völkerwanderung? Europa überrannt von Flüchtenden wie damals das Römische Reich von den Barbarenstämmen? In einschlägigen Kreisen liegen solche Töne derzeit im Trend. Im Rahmen seines Vortrags „Ethnischer Roadtrip oder Geschehen von Vertreibung und Gewalt? Die Völkerwanderung“nahm sich Martin Kaufhold, Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Augsburg, diese Thesen vor. Sein Bogen reichte von 375 bis 450 n. Chr., vom Vorpreschen der Hunnen über die dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen der Langobarden, Vandalen, Sueben, Franken sowie der West- und Ostgoten Richtung Italien und Spanien bis zum Tod des Hunnenkönigs Attila und dem Untergang des Römischen Reiches.
Die Hunnen, denen sich die Ostgoten anschlossen, versetzten innerhalb von 30 Jahren die gesamte Region zwischen dem Nordrand des Schwarzen Meeres und dem heutigen Frankreich in Bewegung. Die Westgoten flohen vor den Hunnen an die Donau, baten um Aufnahme in das Römische Reich. Der Kaiser, erklärt Kaufhold, sagte: „Wir schaffen das“und setzte sie wegen Soldatenmangels vor allem zur Grenzsicherung ein. Misswirtschaft und Lebensmittelknappheit in den „Aufnahmelagern“der Goten sorgten jedoch für einen Aufstand, sie erhoben sich gegen ihre Bewacher und schlugen die oströmischen Truppen bei Adrianopel vernichtend. Diese Niederlage und die Plünderung Roms 410 n. Chr. gelten als Anfang vom Ende des weströmischen Reichs. Vandalen-Verbände aus Nordeuropa brachten sich zeitgleich Richtung Süden und Westen vor den Hunnen in Sicherheit und durchbrachen ebenfalls die römischen Grenzen. Da sie in Spanien mit den dort bereits siedelnden Westgoten in Konflikt gerieten, setzten sie bei Gibraltar über nach Afrika und nahmen Karthago ein. Rom versuchte, die Grenzen zu sichern, scheiterte jedoch.
Diese Stämme, die in lockeren Verbänden ins Römische Reich sickerten, waren keine ethnischen Einheiten. Zu „Völkern“wurden sie erst, als sie mit „den anderen“, den Römern, in Konflikt gerieten. Ihre Gruppenidentität, so erklärt Kaufhold, speiste sich aus heutiger Sicht aus Rechtstraditionen und -werten. Wer sich an diese hielt, gehörte dazu. Von gezielter „ethnokultureller Zersetzung“des Römischen Reiches, wie Apologeten es mit Blick auf Europa gerne nennen, könne also keine Rede sein.
Wie sich die Stämme selbst sahen, ist völlig unbekannt. Quellen gibt es nur von der anderen Seite. Bezeichnungen wie „Geißel Gottes“waren weit verbreitet. Die Geschichte dieser Völkerwanderung sei unvollständig und verzerrt. Für eine Gegenüberstellung tauge sie nicht. Das Urteil des Historikers: „Die heutigen Fluchtbewegungen sind nur mit Intelligenz, nicht mit instrumentalisierten Vergleichen zu bewältigen.“