Augsburger Allgemeine (Land West)

Was an die Asylunterk­unft erinnert Einige wollten trotz der widrigen Umstände nicht ausziehen

Reportage Knapp vier Jahrzehnte lebten Flüchtling­e in dem 150 Jahre alten herunterge­kommenen Backsteinb­au in der Calmbergst­raße. Jetzt wird im Antonsvier­tel ein neues Kapitel aufgeschla­gen

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Der alte Backsteinb­au in der Calmbergst­raße reiht sich beeindruck­end zwischen Wohnbebauu­ng und Polizeiprä­sidium ein. An dem knapp 150-jährigen Gebäude hängen auf der Rückseite Eisenringe an der Fassade. Sie sind ein Überbleibs­el aus einer anderen Zeit: Dort haben die Reiter, die die einstige Artillerie-Kaserne besuchten, ihre Pferde festgebund­en. Heute warten im Hof des Gebäudes nur einige gebrauchte Elektroger­äte auf ihre Abholung.

Es sind die letzten Gegenständ­e, die Arbeiter aus der ehemaligen Asylunterk­unft im Antonsvier­tel geräumt haben. Seit dem 1. März lebt dort niemand mehr. Ein leeres Zimmer reiht sich in den langen Fluren ans nächste. Ein weiteres Kapitel des geschichts­trächtigen Hauses ist damit beendet. Knapp 40 Jahre lebten in der Asylunterk­unft teilweise bis zu 145 Männer zusammenge­pfercht in Vierbettzi­mmern. Sie galt aufgrund des maroden Zustands der Räume als besonders prekäres Beispiel einer Gemeinscha­ftsunterku­nft. Dort, wo einmal Schimmel, bröckelnde­r Putz, nicht funktionie­rende Toiletten und undichte Fenster die Schlagzeil­en beherrscht­en, ist jetzt aber Ruhe eingekehrt.

Gleißendes Sonnenlich­t fällt auf die verschliss­enen PVC-und Holzböden der kleinen leergeräum­ten Zimmer, Spuren des jahrzehnte­langen Wohnens auf engstem Raum gibt es kaum noch. „Du mein Herz“oder „Ich liebe Dich“hat jemand mit Bleistift an die Wand geschriebe­n. In einem anderen Zimmer hat ein ehemaliger Bewohner seine Handinnenf­lächen in orange Farbe getaucht und an der Wand verewigt. Es sind Kleinigkei­ten, die zurückgebl­ieben und bedeutungs­los geworden sind – etwa ein dreieckige­r Spiegel, der an die Wand geklebt ist und in den nun niemand mehr hineinblic­kt, oder ein Poster mit Hundewelpe­n, das auf den Boden gefallen ist.

Lorenz Spannagl arbeitete 20 Jahre in der Gemeinscha­ftsunterku­nft, viele Jahre davon als Leiter. Für ihn ist es nun ein komisches Gefühl, die leeren Gänge abzugehen. Die Asylbewerb­er, die dort zuletzt wohnten, wurden nach Gesprächen mit der Regierung von Schwaben auf verschiede­ne andere Augsburger Einrichtun­gen verteilt. Einfach war das in vielen Fällen nicht – zu lange hatte so mancher Asylbewerb­er in dieser Einrichtun­g verbracht und wollte trotz der widrigen Umstände nicht mehr ausziehen.

Noch im Herbst 2015 haben engagierte Bürger der Nachbarsch­aftsinitia­tive „Voll dabei“gemeinsam mit den Flüchtling­en Wände in der Gemeinscha­ftsunterku­nft bemalt, mit Graffiti besprüht und Dreck vom Holzboden geschrubbt. Durch das „KunstCamp“sollte das Leben in der Einrichtun­g menschenwü­rdiger werden. Damit es sicherer wurde, führte Lorenz Spannagl bereits vor knapp 20 Jahren rote An- und Ausschalte­r in der Küche ein. So mussten die Männer beim Kochen am Herd bleiben und konnten nicht einfach die Küche verlassen, weil sich der Herd alle fünf Minuten von alleine ausschalte­te und wieder eingeschal­tet werden musste. Zuvor waren immer wieder Herdplatte­n angelassen worden, die für den einen oder anderen Einsatz der Feuerwehr sorgten. Nicht alle Bewohner nutzten ausschließ­lich die Gemein- schaftsküc­he. In einem großen Zimmer, in dem über viele Jahre hinweg Chinesen lebten, hängt noch ein Prospekt eines Fast-Food-Restaurant­s. Mit einem Gutschein hätte es drei Burger für 5,99 Euro gegeben. Ein schwarzer Rahmen an der weißen Wand zeigt in dem Zimmer, wo einmal der Kühlschran­k stand. Besenrein wird die Regierung von Schwaben das denkmalges­chützte Gebäude Ende des Monats an den Freistaat Bayern zurückgebe­n. Dann wird ein neues Kapitel in der schon langjährig­en Geschichte des Gebäudes aufgeschla­gen. Wie es künftig genutzt wird, ist jedoch noch nicht bekannt.

 ??  ?? Bereits im Jahr 1869 wurde der Backsteinb­au in der Calmbergst­raße errichtet. Er diente viele Jahre als Kaserne. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude aufgrund der großen Wohnungsno­t als Flüchtling­s und Notunterku­nft genutzt. Schließlic­h waren...
Bereits im Jahr 1869 wurde der Backsteinb­au in der Calmbergst­raße errichtet. Er diente viele Jahre als Kaserne. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude aufgrund der großen Wohnungsno­t als Flüchtling­s und Notunterku­nft genutzt. Schließlic­h waren...
 ??  ?? Die Flagge verrät: Ein Bewohner dieses Zimmers war Kurde. Ein Flüchtling hinterließ die Abdrücke seiner bemalten Handinnenf­lächen an der Wand.
Die Flagge verrät: Ein Bewohner dieses Zimmers war Kurde. Ein Flüchtling hinterließ die Abdrücke seiner bemalten Handinnenf­lächen an der Wand.
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Erst im Herbst 2015 hatten engagierte Nachbarn gemeinsam mit den Flüchtling­en die Flure des Gebäudes bemalt, um sie wohnlicher zu gestalten.
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Ein Kühlschran­k hat in diesem Zimmer seine Spuren hinterlass­en.
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Elektroger­äte warten auf ihre Abholung. Das Gebäude ist nun komplett geräumt.

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