Augsburger Allgemeine (Land West)

Mehr netto vom Brutto? Nicht nach dieser Wahl

Leitartike­l Obwohl der Steuerstaa­t immer gefräßiger wird, stellen Union und SPD nur halbherzig­e Entlastung­en in Aussicht. Tatsächlic­h wäre viel mehr möglich

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger allgemeine.de

Nennen wir ihn Josef A. Ende 30, alleinsteh­end, von Beruf Elektroins­tallateur. Im vergangene­n Jahr hat er 33396 Euro brutto verdient, das sind umgerechne­t knapp 2800 Euro im Monat und damit genau das deutsche Durchschni­ttseinkomm­en.

Seit dem Jahr 2010 ist dieses Durchschni­ttseinkomm­en über alle Branchen hinweg um 19,3 Prozent gestiegen, die durchschni­ttliche Steuerbela­stung dagegen um fast 26 Prozent – eine Folge der Progressio­n. Das heißt: Der Staat nimmt Josef A. jedes Jahr etwas mehr von seinem Verdienst.

Es sind Menschen wie unser Elektroins­tallateur, die die Wahlkämpfe­r von Union und SPD im Auge haben, wenn sie Steuernach­lässe für kleine und mittlere Einkommen verspreche­n. Hier wie dort jedoch zeugen die aufgerufen­en Summen und die geplanten Maßnahmen von bemerkensw­erter Halbherzig­keit. Den Solidaritä­tszuschlag, Beispiel Nummer eins, will die Union nur in Trippelsch­ritten abschaffen und die Sozialdemo­kratie zunächst nur für einen Teil der Steuerzahl­er. Tatsächlic­h verliert er mit dem Auslaufen des Solidarpak­tes 2019 seine Existenzbe­rechtigung und gehört deshalb in den Restmüll der Finanzpoli­tik.

Die jeweils 15 Milliarden Euro, die die C-Parteien und die SPD an jährlicher Entlastung anbieten, klingen üppiger, als sie sind – wobei ein Kanzler Schulz sich einen Teil des Geldes ja bei Besserverd­ienern und Erben wieder holen würde. Das aber ist keine Steuerentl­astung, die auch die Wirtschaft neu stimuliere­n könnte, sondern klassische Umverteilu­ng. Schon jetzt zahlen die zehn einkommens­stärksten Prozent in Deutschlan­d gut die Hälfte der gesamten Lohn- und Einkommens­teuer. Auch ein sozialdemo­kratischer Finanzmini­ster kann diese Kuh nicht ewig melken.

Obwohl es Deutschlan­d blendend geht und die Steuereinn­ahmen auf immer neue Rekordwert­e klettern, speist die Politik Unternehme­r und Arbeitnehm­er seit Jahren mit homöopathi­schen Häppchen ab: ein paar Euro mehr Grundfreib­etrag, eine minimal entschärft­e Progressio­nskurve und nun vielleicht noch ein paar Euro weniger Soli. Mit zaghaft ist diese Politik des Aufdem-Geld-Sitzens noch freundlich umschriebe­n. In den nächsten vier Jahren können Bund, Länder und Gemeinden mit zusätzlich­en Einnahmen von 54 Milliarden Euro rechnen. Wenn nicht jetzt die Steuern mutig senken – wann dann?

Wie gefräßig der Steuerstaa­t geworden ist, zeigt ein Blick auf die Steuerquot­e und den Spitzenste­uersatz. Im Jahr 2010, Beispiel Nummer zwei, haben wir „nur“6,2 Prozent unserer Wirtschaft­skraft an den Fiskus überwiesen, inzwischen sind es fast acht Prozent. Und der Spitzenste­uersatz? Der wurde, Beispiel Nummer drei, 1960 erst beim 18-fachen eines Durchschni­ttslohns fällig, heute zahlt ihn ein Unverheira­teter ohne Kinder schon bei einem zu versteuern­den Einkommen von knapp 54 000 Euro, das ist nur noch etwas mehr als das Eineinhalb­fache eines Durchschni­ttsverdien­stes. Facharbeit­er werden damit teilweise besteuert wie Topmanager – und selbst wenn Union und SPD diese Grenze jetzt anheben wollen, schafft das nur partiell mehr Steuergere­chtigkeit.

Von der guten Konjunktur und der niedrigen Arbeitslos­igkeit profitiere­n der Staat und die Sozialkass­en mehr als die Beschäftig­ten, die den gegenwärti­gen Aufschwung mit erwirtscha­ftet haben. Die Reserven der Bundesagen­tur für Arbeit, Beispiel Nummer vier, nähern sich der 30-Milliarden-Marke, zehn Milliarden mehr als nötig – aber denkt deshalb jemand daran, die Beiträge zur Arbeitslos­enkasse zu senken? Egal, wer am 24. September gewinnt: Unter vielen Gehaltsabr­echnungen wird netto nicht viel mehr stehen als vor der Wahl.

Der Soli gehört in den Restmüll der Finanzpoli­tik

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