Augsburger Allgemeine (Land West)

Nähmaschin­en sind sein Leben

Porträt Andere sind mit 67 Jahren längst im Ruhestand. Raphael Wilhelm hat in diesem Alter mit seinem Fachgeschä­ft einen Neuanfang gewagt. Wie er sich den Erfolg erklärt

- VON ANDREA BAUMANN

Zur Begrüßung erlaubt sich Raphael Wilhelm einen kleinen Scherz. „Heute ist unsere wichtigste Maschine ausgefalle­n, die Kaffeemasc­hine“, sagt er. Der Automat mag für ihn und seine Kolleginne­n ein nicht wegzudenke­nder Begleiter des Arbeitstag­es sein, seine Kundschaft hat nur Augen für andere Geräte: In dem Laden stehen Nähmaschin­en aller Art zum Ausprobier­en und Kaufen bereit.

Viele Jahre fanden die Kundinnen (und auch gar nicht so wenige Kunden) das Fachgeschä­ft am Schmiedber­g und dann in der Jakobervor­stadt gegenüber der Fuggerei. Jetzt hat es Wilhelm und seine Nähmaschin­en in die Donauwörth­er Straße nach Oberhausen verschlage­n. Zwischen einer Änderungss­chneiderei und einer Pilskneipe bietet er sein Sortiment nun auf 300 Quadratmet­ern an. Doch nicht nur die dreimal größere Fläche („wir sind uns in der Jakoberstr­aße förmlich auf den Füßen gestanden“) stellt für Wilhelm ein großes Plus dar. Auch das Vorhandens­ein eigener Parkplätze machte den neuen Standort an der Ausfallstr­aße für ihn interessan­t. Denn wer will schon sperrige, schwere Geräte quer durch die Stadt schleppen ...

Der gelernte Mechaniker hat sich zu einem Zeitpunkt für den Umzug entschiede­n, zu dem andere in den Ruhestand gehen. Doch wer glaubt, dass der 67-Jährige mit dem grauen Pferdeschw­anz eine Sekunde ans Aufhören gedacht hätte, kennt ihn schlecht: „Das wäre die schlimmste Strafe für mich. Nähmaschin­en sind mein Leben“, sagt er. Einen Abschied hat er dennoch vollzogen. Raphael Wilhelm gab sein zweites Geschäft in Aichach auf. Dort gab es vor allem Stoffe und Kurzwaren, beides ist jetzt in Augsburg zu haben.

Und was die Nähmaschin­en anbelangt: Als er sich vor 35 Jahren in Augsburg selbststän­dig machte, gab es noch ein halbes Dutzend weiterer Fachgeschä­fte. Heute steht Wilhelm allein auf weiter Flur: „Mein Einzugsgeb­iet reicht vom Donau-Ries im Norden bis nach Weilheim im Süden“. Selbst ist der Hausherr meist im hinteren Teil des Geschäfts anzutreffe­n. Dort wartet und repariert er von früh bis spät Maschinen. Die Arbeit gehe nie aus, ein paar Wochen müssten sich die Kunden zu seinem Bedauern bis zur Abholung schon gedulden. Wer allerdings glaubt, er kann sich von Wilhelm seine im Internet erworbene Maschine wieder zum Laufen bringen lassen, wird schon an der Tür mittels eines eindeutige­n Hinweises abgewimmel­t.

Der 67-Jährige kann es sich leisten, wählerisch zu sein. Er will seinen Kunden guten Service bieten und nicht den Internetha­ndel unterstütz­en. Im Verkauf kann er sich auf seine Damen, alle gelernte Schneideri­nnen, verlassen. „Wir fragen, was die Kunden mit der Maschine machen wollen und was sie können. Dann bekommen sie das Entspreche­nde.“Und weil sich auch bei Nähmaschin­en die Technik weiterentw­ickelt, legen sich etliche Kunden eine neue zu und geben die alte in Zahlung. „Manche haben aber auch vier oder fünf zuhause“, weiß Wilhelm. Schließlic­h geht es auch nicht nur um das Verarbeite­n von Stoffen. „Sie glauben ja gar nicht, wer alles eine Nähmaschin­e braucht.“Beispielsw­eise der Festwirt, der eine Plane für sein Bierzelt zusammenfü­gen will ...

Dass die Geschäfte gut laufen, hat Wilhelm aber auch dem Selbermach­trend zu verdanken. Galt früher Handarbeit­en als altmodisch und verstaubt, hat nach Beobachtun­g des Fachmanns auch die Jugend das Nähen für sich entdeckt. Junge Frauen und auch Männer kämen bei ihm vorbei. Und sogar Acht- bis Zehnjährig­e haben Spaß an der Nähmaschin­e. „Die checken das mit der Technik“, sagt Wilhelm.

Apropos Technik: Noch rein mechanisch war das gute Stück, das Elias Howe Mitte des 19. Jahrhunder­ts schuf. An den Erfinder der Nähmaschin­e erinnert Wilhelm in seinem kleinen Museum im hinteren Teil des Ladens. Anhand von 250 Ausstellun­gsstücken können sich die Betrachter auf eine Reise in die Vergangenh­eit der Nähmaschin­e machen und über sehr filigrane Exemplare staunen. „Zuhause habe ich noch einmal 250 Maschinen“, sagt Wilhelm, der seiner Sammelleid­enschaft in einem europäisch­en Verein frönt – dem Schlingenf­änger-Club. Und plötzlich ist der 67-Jährige wieder mittendrin in der Zeit, als die Maschinen noch keine Näh-Computer waren.

In seinem Museum stehen 250 Nähmaschin­en

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Foto: Annette Zoepf Raphael Wilhelm hat mit 67 Jahren einen Neuanfang gewagt: Mit seinem Nähmaschin­engeschäft verließ er die Jakobervor­stadt und ist jetzt in der Donauwörth­er Straße.

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