Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Helden von Hamburg

Terror Der Tunesier Jamel Chraiet sitzt vor einem Backshop, als plötzlich ein paar Meter entfernt ein Mörder aus einem Supermarkt stürmt. Gemeinsam mit anderen Männern gelingt es ihm, den Islamisten außer Gefecht zu setzen. Aber warum war dieser überhaupt

- VON DORIT KOCH, CHRISTIANE JACKE UND ANDREAS FREI

Hamburg/Augsburg

Was macht so ein Held am Tag danach? Nachdem er einem Mörder die Stirn geboten und zumindest mitgeholfe­n hat, dass nicht noch Schlimmere­s passiert. Er geht Einkaufen, und zwar höchste Eisenbahn. Jamel Chraiet, 48, gebürtiger Tunesier aus Hamburg, sollte das eigentlich schon am Freitagnac­hmittag erledigen. Seine Frau hatte ihm über WhatsApp die Einkaufsli­ste geschickt. Dann saß er im Stadtteil Barmbek erst ein paar Minuten mit Landsleute­n zusammen, vor einem Backshop, gleich neben dem Edeka-Supermarkt in der Fuhlsbüttl­er Straße. Es war ja erst kurz nach drei, da blieb noch genügend Zeit. Nur: Wer rechnet schon damit, dass plötzlich ein Mörder mit einem blutversch­mierten Messer vor einem steht und am nächsten Tag die Menschen ihn und ein paar andere Männer als Helden von Hamburg feiern? Und was sagt man da? Jamel Chraiet sagt: „Als Helden würde ich uns nicht bezeichnen. Das ist einfach eine normale Reaktion.“Einen islamistis­chen Mörder zu stoppen – eine normale Reaktion?

Quatsch, entgegnet, Ahmet Dogan, der Chef des Backshops, natürlich seien die Jungs Helden, so, wie sie mithilfe von Stühlen, einer Eisenstang­e, einer Werbetafel, ja sogar Pflasterst­einen den Attentäter außer Gefecht gesetzt haben. Wer weiß, was passiert wäre, „wenn sie ihn nicht aufgehalte­n hätten“, sagt Dogan. Voller Stolz verweist er darauf, „dass es ausländisc­he Mitbürger waren“, die den Angreifer Ahmad A. – ein Palästinen­ser, geboren in den Vereinigte­n Arabischen Emiraten – aufhielten. Nicht alle, aber fast alle. Mohammed Wali, 49, ein gebürtiger Ägypter. Ömer Ünlü, 35, ein Türke, der sich bei der Aktion selbst verletzt hat. Toufiq Arab, 21, der Edeka-Lehrling, der vor fünf Jahren als Asylbewerb­er aus Afghanista­n nach kam. Oder Sönke Weber, ein 28-jähriger Deutscher. Und eben Jamel Chraiet.

Der Mann lebt seit 27 Jahren in Deutschlan­d und arbeitet bei der Hamburger Hochbahn. In dem Moment, als er zu einer kleinen Berühmthei­t wird, geht alles ganz schnell. Eine Frau habe geschrien, dass jemand Menschen absteche, erinnert sich Chraiet. Was sich da gerade in dem Supermarkt ereignet, werden die Ermittler später folgenderm­aßen rekonstrui­eren: Ahmad A., 26, ein abgelehnte­r Asylbewerb­er, betritt um kurz vor drei den Edeka-Markt. Er kauft Toastbrot, geht wieder und steigt in einen Bus – um umgehend wieder auszusteig­en. Wieder geht er in den Markt, zieht aus einem Regal ein etwa 20 Zentimeter langes Küchenmess­er, löst die Verpackung und fängt an, wahllos auf Kunden einzustech­en. Ein 50-jähriger Mann stirbt, sieben weitere Personen werden zum Teil schwer verletzt. Eine spontane Tat?

Ahmad A. stürmt aus dem Edeka und sucht sich weitere Opfer. Er ruft „Allahu Akbar“– Gott ist groß – und steht in diesem Moment nur wenige Meter von Jamel Chraiet entfernt. Er trägt modische Jeans und ein graues T-Shirt. In seiner Hand: das blutversch­mierte Messer. „Egal, wie cool man sonst ist, in einem solchen Augenblick weiß man erst einmal gar nichts“, erzählt Chraiet. Und dann? „Wir haben uns besprochen, jeder sollte einen Stuhl schnappen. Dann sind wir auf ihn losmarschi­ert.“Ein Autofahrer filmt das Geschehen, das Handyvideo ist später in allen Nachrichte­nsendungen zu sehen.

„Er wurde bereits von Leuten verfolgt, die auf ihn eingeredet haben“, fährt Chraiet fort. Leuten wie Sönke Weber. Der Friseur schleudert eine Plastik-Werbetafel auf Ahmad A. Leuten wie Mohammed Wali, der sich auch mit einem Stuhl bewaffnet. Wie Ömer Ünlü, der gerade mit seiner Familie im Auto vorbeifähr­t und sofort handelt. Und der Bild am Sonntag später sagt: „Ich habe mir eine Eisenstang­e geschnappt und den Mann mit einem gezielten Schlag niedergest­reckt.“ viele Männer es am Ende sind, die den Islamisten einkesseln und so lange in Schach halten, bis die Polizei eintrifft, ist in der Hektik nicht festzustel­len. Chraiet ist in den letzten Sekunden nicht mehr dabei. Aber zuvor habe er noch versucht, mit Ahmad A. zu reden, erzählt der Tunesier, als er am Samstag wieder im selben Backshop sitzt wie am Tag zuvor. Aber der habe nur etwas gesagt, was man überhaupt nicht verstehen konnte. „Ob der in einer anderen Welt war? Keine Ahnung, was mit ihm los war.“

Was war mit ihm los? Was auch immer zu der Tat geführt hat: Fakt ist, dass sich wieder ein Asylbewerb­er, in diesem Fall ein abgelehnte­r, radikalisi­ert und ein grausames Verbrechen verübt hat. Der Fall weist traurige Parallelen zu den GeschehDeu­tschland nissen des vergangene­n Jahres auf. Auch die Attentäter von Würzburg, Ansbach und vom Berliner Weihnachts­markt kamen als Schutzsuch­ende nach Deutschlan­d und entluden hier ihren Hass. Und es gibt noch weitere Parallelen.

Wie Anis Amri, der Mörder von Berlin, ist Ahmad A. für die Behörden kein Unbekannte­r. Er kommt im März 2015 nach Deutschlan­d – in jenem Jahr, das als Jahr der Flüchtling­skrise in die Geschichte eingehen wird. Zuvor, so glaubt man zu wissen, war er in Norwegen, Spanien und Schweden. Hamburgs Verfassung­sschutz-Chef Torsten Voß sagt, Ahmad A. spreche „hervorrage­nd Englisch, Schwedisch und Norwegisch“.

Schon vor geraumer Zeit verändert er sich. Plötzlich trinkt er keiWie nen Alkohol mehr, feiert nicht mehr, zieht sich zurück, betet oft, spricht viel über den Koran, zitiert in Flüchtling­scafés lautstark KoranVerse. Einem Freund ist das nicht geheuer. Er geht zur Polizei. Daraufhin statten Verfassung­sschützer dem Verdächtig­en einen Besuch ab. Sie befragen ihn, holen Erkundigun­gen ein, speichern ihn als Verdachtsf­all unter 800 anderen Islamisten der Stadt. Doch sie stufen ihn nicht als gefährlich ein. Ein Fehler, wie man jetzt weiß.

Warum nun diese Tat? Die Sicherheit­sbehörden wollen oder können bislang keine klaren Antworten geben. Sie sprechen von einer schwierige­n „Gemengelag­e“. Es gebe einerseits Hinweise auf religiöse Beweggründ­e und islamistis­che Motive, aber auch auf eine „psychische Labilität“. Verfassung­sschützer Voß beschreibt den Mann als „destabilis­ierte“und „verunsiche­rte Persönlich­keit“. Bislang gebe es keinen Hinweis, dass er fest in die Islamisten­szene eingebunde­n oder Teil eines Netzwerks sei. Mitbewohne­r in seiner Asylunterk­unft, die noch in der Nacht durchsucht wird, beschreibe­n ihn als Außenseite­r. Auch von Drogen ist die Rede.

Vorstrafen hat er nicht. Nur einmal fällt er mit einem Delikt auf: Ladendiebs­tahl. Im vergangene­n April ist das. Das Verfahren wird wegen Geringfügi­gkeit eingestell­t.

Haben die Behörden ihn unterschät­zt? Innensenat­or Andy Grote räumt ein, dieser Frage müsse man nachgehen. Warum ist Ahmad A. überhaupt noch in Deutschlan­d? Warum sitzt er nicht längst in Abschiebeh­aft? Auch dieser Fall weist auf ein Kernproble­m der deutschen Asylpoliti­k hin.

Als Ahmad A. nach Deutschlan­d kommt, hat er keine Ausweispap­iere bei sich, nur eine Geburtsurk­unde. Seine erste Station ist Dortmund. Von dort aus wird er nach Hamburg weitergesc­hickt, wo er im Mai 2015 einen Asylantrag stellt. Der wird Ende 2016 abgelehnt. Seitdem hätte er ausreisen müssen. Doch die Papiere dazu fehlen. Die Behörden sagen, die Auslandsve­rtretung der Palästinen­ser habe sich bereit erklärt, Ahmad A. als Mitglied der Volksgrupp­e anzuerkenn­en und ihm Ersatzpapi­ere zu besorgen. Er selbst habe „unbedingt ausreisen“wollen. Noch am Freitag, wenige Stunden vor der Attacke, hat er sich bei der Ausländerb­ehörde erkundigt, ob seine Unterlagen angekommen sind. In dieser Hinsicht, sagt Hamburgs Polizeiprä­sident Ralf Meyer, sei Ahmad A. eine „fast vorbildhaf­te Person“gewesen.

Zur Erinnerung: Auch Anis Amris Asylantrag hatte keinen Erfolg. Auch er hätte ausreisen sollen. Doch nichts passierte. Nach Würzburg, Ansbach und Berlin wurden hitzige politische Debatten geführt, Untersuchu­ngsgremien eingesetzt, Gesetze verschärft, Abschiebun­gen erleichter­t, die Überwachun­g von Gefährdern verstärkt. Alles umsonst?

Ahmad A. sitzt nun in Untersuchu­ngshaft. Bislang habe er sich zur Tat nicht geäußert, sagt Oberstaats­anwältin Nana Frombach. Es hätten sich aber auch „keine belastbare­n Hinweise“für eine vermindert­e Schuldfähi­gkeit ergeben. Der Generalbun­desanwalt in Karlsruhe prüft, ob er den Fall an sich zieht.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel lässt am Samstag aus dem Urlaub ausrichten, sie trauere um das Opfer der Attacke. Dann dankt sie der Polizei „sowie all jenen, die sich mit Zivilcoura­ge und Mut dem Täter entgegenge­stellt haben“. Leuten wie Jamel Chraiet. Der hat eine halbe Stunde nach dem Attentat eine besorgte WhatsApp-Nachricht seines 18-jährigen Sohnes auf dem Handy, der ihn auffordert: „Ruf sofort an!!“Erst spät in der Nacht schafft er es einzuschla­fen. „Es hat lange gedauert. Die Bilder gehen einem nicht aus dem Kopf.“

Was bleibt von diesem Tag und der Geschichte, er sei ein Held? Er sei froh, sagt er, dass er und seine Landsleute an der Verfolgung beteiligt gewesen seien. „Damit die Leute sehen, es gibt auch andere, die nicht so sind.“

Sie gehen mit Stühlen und Pflasterst­einen auf ihn los Der Täter sitzt in Haft und schweigt

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Foto: Morris MacMatzen, Getty Images Der Gehweg vor dem Edeka Supermarkt ist zu einem Gedenkort für den getöteten Kunden geworden. Und zu einem Ort, an dem sich die Hamburger bei ihren „Helden“bedanken.
 ?? Foto: Markus Scholz, dpa ?? „Als Helden würde ich uns nicht bezeichnen. Das ist einfach eine normale Reaktion“: Jamel Chraiet am Tag nach dem Attentat.
Foto: Markus Scholz, dpa „Als Helden würde ich uns nicht bezeichnen. Das ist einfach eine normale Reaktion“: Jamel Chraiet am Tag nach dem Attentat.

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