Augsburger Allgemeine (Land West)

Das Eskimo Dorf, das bald im Meer versinkt

Umwelt Donald Trump hält den Klimawande­l für eine Erfindung. Die 600 Bewohner von Shishmaref erleben ihn jeden Tag. Denn die kleine Insel im Westen Alaskas droht unterzugeh­en. Jetzt wollen die Menschen weg. Doch das ist nicht so einfach

- AUS ALASKA BERICHTET THOMAS SPANG

Shishmaref

Die letzten Tage von Shishmaref brachen im Frühsommer 2007 an. Das Eis auf der Tschuktsch­ensee und der Lagune um die Insel, die 35 Kilometer südlich des Polarkreis­es liegt, funkelte verführeri­sch in der Sonne, die zu dieser Jahreszeit nicht untergeht. Die Robbenfäng­er waren schon zurück. Doch nahe der Küste machte die zugefroren­e Oberfläche noch einen soliden Eindruck.

Norman Kokoeok, 25, wollte noch einmal mit einem Freund auf Entenjagd gehen. Er raste übers Eis – so, wie er es als Kind immer mit seinem Vater getan hatte. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, als das Eis unter seinem Schlitten brach. Norman Kokoeok ertrank am 2. Juni 2007 in den eisigen Fluten.

Dieses Datum steht auf dem weißen Kreuz, einem von vielen auf dem Friedhof von Shishmaref. Ken Steneck, 45, kommt regelmäßig zur Ruhestätte seines früheren Schülers. Er sagt: „Das hätte nicht passieren dürfen.“Und obwohl das Unglück zehn Jahre zurücklieg­t, rührt es den Wissenscha­ftslehrer der örtlichen Highschool noch immer zu Tränen.

Für die Gemeinde, in der vor allem Inupiat-Eskimos leben, markiert Normans Tod eine Zäsur. „Wir sehen in ihm das erste Opfer des Klimawande­ls“, sagt auch Steneck, der die Veränderun­gen miterlebt hat, seit er vor 18 Jahren auf die Insel kam. „Das Eis war für die Jahreszeit viel zu dünn.“

Shishmaref, das Eskimo-Dorf, liegt weit weg von allem, auf einer schmalen Insel am Ausgang der Beringstra­ße, 150 Kilometer von Russland entfernt. Auch das ist Amerika – selbst, wenn man von dem Dorf im äußersten Westen Alaskas fast 24 Stunden braucht, um nach Washington zu gelangen. Selbst, wenn US-Präsident Donald Trump steif und fest behauptet, der Klimawande­l sei eine Erfindung. Die Menschen in Shishmaref, sie wissen es besser. Denn ihre Insel versinkt nach und nach im Meer.

Früher schützte das Meereis das Eiland bereits Ende Oktober vor den schweren Herbststür­men. Zuletzt fror das Meer erst im Januar zu. Im Frühjahr bricht das Eis früher auf. „Im Schnitt gut ein Grad Celsius Erwärmung in der Arktis sieht nach nicht viel aus“, meint Ken Steneck, der Lehrer. „Aber das hat dramatisch­e Konsequenz­en.“Die Insel ist den Fluten schutzlos ausgeliefe­rt. Hinzu kommt: Shishmaref steht auf Permafrost­boden – einem Untergrund, der bisher auch im Sommer nur oberflächl­ich auftaute und damit ein sicheres Fundament bot. Jetzt weichen die steigenden Temperatur­en das Land zusehends auf und erlauben dem Meer, den Boden abzutragen. Die Insel wird immer kleiner. In den vergangene­n 30 Jahren hat sie mehr als zehn Prozent ihrer Fläche eingebüßt.

Kaum jemand kennt das Eis so gut wie Stan Tocktoo, der in den 80er Jahren noch im Juli auf die Jagd ging. Heute ist das Eis auf der stahlgraue­n Tschuktsch­ensee zu dieser Zeit längst verschwund­en – wie auch 50 Prozent der gesamten Eisfläche in der Arktis. Tocktoo, Mitglied des Ältestenra­ts der Inupiat, hat keinen Zweifel, dass dies mit der Erderwärmu­ng zu tun hat. „Wir müssen uns anpassen und viel größere Risiken eingehen, wenn wir überleben wollen“, sagt er. Da das Eis von Jahr zu Jahr früher aufbricht, bleiben den Robbenfäng­ern oft nur ein paar Tage im Mai, die Tiere zu jagen. Dann trocknen sie neben dem Lachs auf Holzbalken am Sandstrand.

Im Oktober 2007 kam der zweite Weckruf. Ein Sturm, dessen meterhohe Wellen erbarmungs­los gegen die ungeschütz­te Nordküste schlugen, nahm an einem Tag 40 Meter Landmasse mit. Das Bild einer Hütte, die vom Meer ausgehöhlt über einer Klippe hing, ging um die Welt. Auch andere Häuser sind dem Wasser bereits zum Opfer gefallen. Einige Inupiat sind weggezogen, bevor es ihnen genauso ergeht.

In Shishmaref wissen die Menschen, wie schwer das Überleben sein kann. Vor 400 Jahren kamen die ersten Inupiat hierher. Sie lebten vom Fischfang, stellten Robbentran her, jagten Karibus. 1867 kauften die USA den Russen Alaska für 7,2 Millionen Dollar ab. Bald danach führte das Büro für Indianeran­gelegenhei­ten die Schulpflic­ht für die als „Eskimo“verunglimp­ften Völker ein. Die Kolonialis­ten zwangen die Nomaden, sesshaft zu werden.

Donna Barr, die Bürgermeis­terin von Shishmaref, weiß aus Erzählun- gen, wie die Inupiat davor in Verbänden zu zwei oder drei Familien rund um die Lagune lebten. „Ihre Lager folgten den Jahreszeit­en der Tiere und der Pflanzen.“Im Frühjahr schlugen sie auf der Insel ihr Camp auf, um auf dem zugefroren­en Meer Robben, Eisbären und Walrosse zu jagen. Als die US-Regierung hier die erste Schule bauen ließ, entstand auch das Dorf Shishmaref. „Unseren Urgroßelte­rn blieb keine andere Wahl, als sich dem Druck zu beugen“, sagt die Bürgermeis­terin.

Längst ist Shishmaref zum Symbol für die verheerend­en Folgen des Klimawande­ls geworden. Die Lage ist aussichtsl­os. Viele Menschen wollen nur noch weg. Im vergangene­n Herbst haben sie erneut abgestimmt – und mit einer knappen Mehrheit für eine Umsiedlung auf das Festland votiert. Zum zweiten Mal schon nach 2002. Der frühere amerikanis­che Präsidents­chaftskand­idat Al Gore nannte die 600 Inselbewoh­ner einst „die ersten Klimaflüch­tlinge der USA“. Eine Übertreibu­ng? „Keinesfall­s“, meint Lehrer Steneck. „Wir sind wirklich nur einen perfekten Sturm von der Katastroph­e entfernt.“

Clifford Weiyouana hat gegen den Umzug gestimmt. Er hat die Hoffnung auf eine schnelle Lösung aufgegeben. Sollte es jemals so weit kommen, „werde ich längst tot sein“, sagt der gastfreund­liche Witwer, der in seinem Haus neben der Schule morgens Pfannkuche­n aus Sauerteig serviert. Der Jäger, der sich das Fliegen einer einmotorig­en Turboprop selber beibrachte, hat wenig Vertrauen in die Regierung, die bisher nichts getan habe, Shishmaref zu helfen. Und die auch nichts für die Inupiat tut. Bis heute erzählt er davon, was der Lehrer mit ihm machte, als er in der Schule die Sprache seiner Vorfahren sprach. „Ich musste zur Strafe hundert Mal an die Tafel schreiben: Ich spreche kein Eskimo.“

Heute verstehen nur noch die Alten Inupiaq. „Wenn wir nicht mehr sind, stirbt die Sprache“, fürchtet Weiyouana. Den Klimawande­l sieht er längst nicht als einzige Gefahr. Nein, die digitale Flut bereitet ihm ebenso große Sorgen wie die Wellen der Tschuktsch­ensee. Statt von ihren Eltern zu lernen, wie sie Karibus und Enten jagen, hängen die Kinder in den Ferien stundenlan­g vor der Schule herum – des freien WLANNetzes wegen. Und während die Einwohner bis heute kein fließendes Wasser haben und die meisten ihr Geschäft auf dem „Honigeimer“genannten Trockenklo verrichten, erhält die Insel in den kommenden Monaten schnelles Internet.

Corbin und seine Freunde können sich der Anziehungs­kraft des Internets nicht entziehen. Die Sprache ihrer Vorfahren aber verstehen die Teenager nicht mehr. Und was ist mit dem Klimawande­l, der die Insel bedroht? Mit der Frage, ob die jungen Inupiat, die ein Drittel des Dorfs ausmachen, in Shishmaref bleiben können? Mit der Zukunft? Corbin und seine Freunde zucken die Schultern, dann schweigen sie.

Gehen oder bleiben – die Alternativ­e gibt es nicht wirklich. Auf 300 Millionen Dollar werden die Kosten für die Umsiedlung auf das zehn Kilometer entfernte Festland geschätzt. Geld, das die Gemeinde selbst nicht aufbringen kann. Der Staat Alaska ist pleite. Und die Trump-Regierung sieht keinerlei Notwendigk­eit, etwas für die Menschen zu tun – wie auch, wenn der Präsident die Augen vor dem Klimawande­l verschließ­t und sogar aus dem internatio­nalen Klimaabkom­men aussteigt.

Sally Cox ist Expertin für RisikoAbsc­hätzung. Im Auftrag des Staates Alaska soll sie dem Dorf dabei helfen, Pläne für die Umsiedlung zu entwickeln. Sie sagt: „Washington hat eine Verantwort­ung für die Menschen hier.“Wie auch für die benachbart­en Gemeinden von Shaktoolik, Newtok, Kivalina und die übrigen 27 Orte an der Nordwestkü­ste Alaskas, die laut einem Bericht des US-Rechnungsh­ofs durch schmelzend­es Eis und den steigenden Meeresspie­gel bedroht sind. Das aber ist das Problem: Dürfte Shishmaref aufs Festland umsiedeln, wäre das der erste Fall dieser Art in den USA – und einer, auf den sich sämtliche US-Amerikaner berufen könnten, die vom steigenden Meeresspie­gel bedroht sind. Das Eskimo-Dorf steht damit vor der Quadratur des Kreises. Es bekommt kein Geld für den Umzug, aber auch keines, die bestehende Infrastruk­tur zu verbessern. „Geld fließt erst, wenn es zu einer Katastroph­e kommt“, meint Sally Cox.

Percy Nayuptuk, 65, sitzt in seinem Gemischtwa­renladen an der einzig asphaltier­ten Straße der Insel und sagt: „Wir haben nicht einmal einen Notfallpla­n.“Eine Rettungsar­che, von der manche geträumt haben, gibt es nicht. Und niemand weiß, ob es die Militärhub­schrauber, auf die man im Katastroph­enfall hofft, überhaupt in die entlegene Region schaffen. Donna Barr, die Bürgermeis­terin, fühlt sich von Donald Trump im Stich gelassen. „Für uns ist der Klimawande­l real. Er bedroht unsere Tiere, unsere Art zu leben und unsere Häuser“, sagt sie.

Tocktoo, das Mitglied im Ältestenra­t der Inupiat, sorgt sich vor allem um den Eisbären und das Walross, das keinen Platz mehr zum Ruhen auf dem Eis findet, und das Karibu, das nicht mehr an seine Nahrung kommt. Er hat den Hilferuf seines Volkes schon einmal persönlich in Washington und Anchorage überbracht. Er sagt: „Das Desaster kommt. Die Frage ist nur wann.“

Vor zwei Jahren kam Barack Obama nach Kotzebue, unweit von hier, und hat sich ein Bild davon gemacht, welche Folgen der Klimawande­l in Alaska hat. Und jetzt, mit Trump? „Er sollte sich mal anschauen kommen, wie Shishmaref Stück für Stück versinkt“, sagt Ken Steneck, der noch immer am Grab von Norman steht. Die Stenecks haben ihr fünftes Kind nach dem jungen Mann benannt, der Opfer des Klimawande­ls wurde. Eine Tradition der Inupiat, in deren Glauben die Verstorben­en in den nach ihnen benannten Personen weiterlebe­n.

Es könnte das Schicksal der Insel vorwegnehm­en. Wenn der letzte Tag gekommen ist und die Insel in der Tschuktsch­ensee untergeht, wird, so hoffen sie, Shishmaref weiterlebe­n.

Er wollte noch kurz Enten jagen. Dann brach das Eis Es gibt keine Kanalisati­on, kein fließendes Wasser

 ?? Archivfoto: Asahi Shimbun/Getty Images ?? Kaum ein Ort ist so stark vom Klimawande­l betroffen wie das Eskimo Dorf Shishmaref im Westen Alaskas, unweit des Polarkreis­es. Durch die globale Erwärmung schmilzt das Meereis, der Boden wird zunehmend weggespült. Unser Bild zeigt eine Luftaufnah­me,...
Archivfoto: Asahi Shimbun/Getty Images Kaum ein Ort ist so stark vom Klimawande­l betroffen wie das Eskimo Dorf Shishmaref im Westen Alaskas, unweit des Polarkreis­es. Durch die globale Erwärmung schmilzt das Meereis, der Boden wird zunehmend weggespült. Unser Bild zeigt eine Luftaufnah­me,...
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Archivfoto: SBCGlobal, dpa Die Zukunft von Shishmaref steht längst auf der Kippe. Nicht erst seit 2007. Damals hat ein Sturm Häuser weggespült.
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Clifford Weiyouama hat dagegen ge stimmt, dass sein Dorf aufs Festland um zieht. „Ich werde längst tot sein“, sagt er.

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