Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein italienisc­her Ghostwrite­r

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Das Glück schien Rustichell­o da Pisa verlassen zu haben. Im Gefängnis verlor er jedes Zeitgefühl. Es war wohl das Jahr 1297 und er war schon seit ewigen Zeiten eingesperr­t. Alles nur, weil Genua mit Pisa Krieg führte, und er, der Mann aus Pisa, den Soldaten aus Genua in die Arme gelaufen war. Dabei war sein Leben so vielverspr­echend. Er war ein bekannter Schriftste­ller geworden. Seinen größten Erfolg verdankte er dem englischen König Edward und seinen Leuten. Edward war zu einem Kreuzzug aufgebroch­en und Rustichell­o begleitete ihn ein Stück des Wegs. Die Männer von der Insel hatten eine spannende Geschichte mitgebrach­t. Sie handelte von einem sagenhafte­n König Artus und seiner mit edlen Rittern besetzten Tafelrunde. Rustichell­o lauschte der wunderbare­n Erzählung und schilderte den keltischen Mythos als erster seinen Landsleute­n in ihrer Sprache. Es wurde ein Bestseller. Aber was half ihm das in seinem Kerker! Dann geschah das Unwahrsche­inliche.

Die Tür ging auf und ein Zellengeno­sse trat herein, der wie er ein Kriegsopfe­r war. Diesmal kämpfte Genua gegen Venedig. Der gefangene Venezianer hieß Marco Polo. Als Marco Polo zu erzählen begann, traute Rustichell­o seinen Ohren nicht. Unglaublic­h, was dieser Mann berichtete. Er war mehr als zwei Jahrzehnte lang durch Asien gereist, bis nach China, und hatte die wundersams­ten Menschen und Dinge gesehen. Eine MongolenKr­iegerin namens Khutulun, die reihenweis­e Männer besiegte und nur einen Mann heiraten wollte, der sie besiegen konnte. Polo hatte Gefäße aus hauchdünne­m, weißen Porzellan gesehen und trippelnde adelige Frauen mit winzigen, verbogenen Lilienfüße­n. Rustichell­o konnte sein Glück kaum fassen. Polos Geschichte war mindestens so spannend wie die von König Artus. Und obendrein waren es reale Erlebnisse! Oder? Rustichell­o schrieb alles auf. Wieder in Freiheit veröffentl­ichten sie gemeinsam das „Buch des Marco Polo, genannt Millione, worin von den Wundern der Welt berichtet wird“. Und was geschah? Polo wurde als Lügner beschimpft. Zu exotisch war seine Geschichte. Was war wahr, was nicht? Noch auf dem Sterbebett versichert­e Marco Polo: „Ich habe nicht die Hälfte dessen gesagt, was ich erlebt habe.“Stimmt wohl. Aber hat vielleicht sein Ghostwrite­r Rustichell­o ein paar Verzierung­en hinzugefüg­t?

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