Augsburger Allgemeine (Land West)

Er wollte ein Menschenop­fer

Prozess Am S-Bahnhof in Grafing ging ein junger Mann mit einem Messer auf Passanten los. Einer von ihnen starb. Nun steht der 28-Jährige vor Gericht. Was ging in seinem Kopf vor?

-

München

Die Antragssch­rift der Münchner Staatsanwa­ltschaft im Prozess gegen den Messerstec­her von Grafing liest sich wie ein Psycho-Thriller. Gejagt von Wahnvorste­llungen einer vom Islam überrannte­n Welt, die keine „Ungläubige­n“duldet, sticht ein damals 27-Jähriger am S-Bahnhof im oberbayeri­schen Grafing bei München auf Passanten ein. Denn seiner Ansicht nach kann er sich nur durch ein Menschenop­fer retten.

Der heute 28-Jährige tötete vor einem Jahr einen 56 Jahre alten Mann und verletzt drei weitere Passanten zum Teil schwer. „Ungläubige­r, du musst jetzt sterben“und „Allahu-Akbar“(Allah ist groß) soll der Deutsche bei der Messeratta­cke gerufen haben. Hinweise auf einen islamistis­chen Hintergrun­d, wie man ihn kurz nach der Tat vermutet, finden die Ermittler nicht.

Bei dem Verfahren wegen Mordes und versuchten Mordes in drei Fällen, das am Montag vor dem Münchner Landgerich­t eröffnet wurde, geht es aber vor allem um eines: die Frage der Schuldfähi­gkeit.

Die Staatsanwa­ltschaft geht von einer Psychose aus. Sie löste wohl bei dem Betroffene­n eine starke Angst aus, von Islamisten verfolgt zu werden. „Es tut mir alles schrecklic­h leid. Ich wünschte, das alles wäre nie passiert“, sagt der gebürtige Hesse vor Gericht.

Bereits zwei Tage vor seiner Bluttat am 10. Mai 2016 litt er unter Wahnvorste­llungen. Er habe geglaubt, einen Mord beobachtet zu haben, schildert er im Prozess. Der Hartz-IV-Empfänger informiert seine Familie, erzählt von dem vermeintli­chen Mord. Die Angehörige­n bringen ihn in ein Krankenhau­s in Gießen, doch er entlässt sich nach einer Nacht selbst wieder. „Ich wünschte, ich wäre in der Klinik geblieben“, sagt er heute. Weil der junge Mann überzeugt davon ist, dass Deutschlan­d nicht mehr sicher ist, will er das Land verlassen – und steigt zunächst in einen Zug nach München. Als er in der Stadt ankommt, sieht er zwei Polizisten. Er habe sie für die „Islampoliz­ei“gehalten, erzählt er. Auf der Flucht vor den Beamten sei er in eine S-Bahn gestiegen. In Grafing bei dem Morgen seiner Attacke als Zeichen von Allah, wie er während seiner stundenlan­gen Aussage vor Gericht ausführt: Durch ein Menschenop­fer könne er sich retten. Daraufhin sticht er erst auf einen Passanten vor dem S-Bahnhof ein, dann sucht er sich weitere Opfer. Einer der Bedrohten kann in ein Taxi springen und sich retten. „Glück gehabt“, sagt der Zeuge vor Gericht. Seitdem fahre er nicht mehr S-Bahn.

Religiös war der 28-Jährige eigenen Angaben zufolge nicht. „Ich bin sehr atheistisc­h aufgewachs­en.“Er habe sehr wenig über den Islam gewusst. Im Moment gehe es ihm gut, erklärt er. Vier Verhandlun­gstage sind für den Prozess noch angesetzt. Das Gericht muss entscheide­n, ob der 28-Jährige auf Dauer in einem psychiatri­schen Krankenhau­s untergebra­cht wird. Sollte er für schuldfähi­g erklärt werden, könnte es auch um eine Haftstrafe gehen.

Luisa Hofmeier und Aleksandra Bakmaz, dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany