Augsburger Allgemeine (Land West)

Von den 68ern lernen?

Oskar Negt, einst Sprachrohr der Außerparla­mentarisch­en Opposition, über Auflehnung heute

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Sie werden als Sprachrohr oder als Mentor der Außerparla­mentarisch­en Opposition (APO) bezeichnet. Wie sehen Sie sich selbst?

Oskar Negt: Ich schreibe gerade am zweiten Teil meiner Autobiogra­fie. Die Bewertung der eigenen Lebensgesc­hichte ist schwierig. Mentor ist in der antiken Tradition der Berater, der Warner, das heißt eine Figur des Ausgleichs. So verstehe ich mich auch. Ich habe in dieser Zeit drei, vier grundlegen­de Reden gehalten, 1972 die Opernplatz­rede in Abgrenzung von der RAF ist vielleicht die politisch einflussre­ichste Rede gewesen. Sie diente vielen, gerade auch jungen Menschen als Orientieru­ng. Der Terror als ein Mittel der sozialisti­schen Politik wurde in dieser Rede eindeutig abgelehnt. Ich hatte die Absicht, eine Form der sozialisti­schen Politik zu organisier­en, die Autoritäts­strukturen abbaut und sich im Bildungssy­stem verankert. Es ging um politische Bildung, die dazu diente, die Menschen aufzurütte­ln und die vielfältig­en Formen von Gewalt in der Welt sichtbar zu machen und zu bekämpfen.

Historiker beschreibe­n eine Radikalisi­erung der Studentenb­ewegung nach dem gewaltsame­n Tod des Studenten Benno Ohnesorg durch den Schuss eines Polizisten 1967 sowie nach dem Attentat auf Rudi Dutschke 1968. Wie haben Sie das damals erlebt? Negt: Der Tod von Ohnesorg und das Attentat auf Dutschke verschärft­en die Polarisier­ung. Viele fragten sich: Darf man sich einbeziehe­n lassen in terroristi­sche Aktionen? Anfangs gab es viele Sympathisa­nten. Das war nicht nur eine Erfindung der Konservati­ven. Ich war damals vor allem enttäuscht von der Radikalitä­t, die nur dazu diente, immer schärfere Angriffe auf das System zu bringen. Die tatsächlic­hen Belange und Sorgen der Menschen wurden dabei vergessen.

Was wurde vernachläs­sigt?

Negt: Die Menschen sind von der Linken oft mit Nachlässig­keit behandelt worden. Man hat sich nicht konkret auf ihre Ängste bezogen. Mit meinen auf Emanzipati­on gerichtete­n Bildungsan­sätzen habe ich Konzepte entwickelt, die für Basisarbei­t geeignet sind. Heute sind es ja nicht nur die Beladenen, die Angst haben. Inzwischen ist auch die Mittelschi­cht von Enteignung­sangst geplagt, obwohl die Enteignung gar nicht stattfinde­t. Der Angstrohst­off in der Gesellscha­ft hat sich spektakulä­r vergrößert. Davon profitiert gegenwärti­g die AfD mit ihrem gefährlich­en antidemokr­atischen Potenzial.

Was können wir heute von der Protestbew­egung der 68er lernen?

Antwort: Man sieht, wie bestimmte Krisenherd­e, die durch eine Wahlentsch­eidung entstehen, sich zu Flächenbrä­nden ausweiten können. Die Vereinigte­n Staaten sind auf diese Weise gegenwärti­g gefährlich für den Weltfriede­n geworden. Man kann und muss im Kleinen beginnen, Aktionen zu entwickeln und andere mitzunehme­n. Meine Idee ist, aus Krisenherd­en Handlungsf­elder zu machen. Der Markt reguliert nicht alles, es fehlt gesellscha­ftliche Planung, die die Beseitigun­g von Ungleichhe­it zum Ziel hat, etwa bei der Wohnungsfr­age oder der Bildung. Das gilt auch für die skandalös ungerechte Reichtumsv­erteilung. Menschen müssen die Zusammenhä­nge verstehen können, um sich zu wehren. Konkrete Formen des Protestes sind immer möglich und wirksam. Wenn Menschen angstvoll, pessimisti­sch sind, hören sie auf zu denken. Interview: Chr. Sticht, dpa

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