Augsburger Allgemeine (Land West)

Kann Augsburg meine neue Heimat werden?

Geboren in Armenien, aufgewachs­en in der Ukraine und in Deutschlan­d, gereist in viele Länder – unsere Autorin Anahit Chachatrya­n ist viel herumgekom­men. Auch deshalb denkt sie oft darüber nach, was Heimat ist

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Neu in Augsburg. Wieder einmal habe ich alles hinter mir gelassen und bin in eine neue, für mich fremde Stadt gezogen. Das scheint sich wie ein roter Faden durch mein Leben zu ziehen. Ich bin in Armenien geboren und aufgewachs­en. Später zogen wir in die Ukraine. Pünktlich zu meiner Einschulun­g lebten wir in Deutschlan­d, in Koblenz, wo ich nun endlich eine ganze Weile verbringen sollte.

Zum Studium zog ich nach Mainz, verbrachte die Semesterfe­rien in aller Welt. Die freie Wahlmöglic­hkeit meines Wohnorts brachte mich schließlic­h nach Bologna, Italien. Wieder eine neue Stadt, eine neue Kultur, ein neues Leben. Nach einer kurzen Rast im italienisc­hen Dolce Vita führte mich mein Weg nach München für ein Traineeshi­p und zurück nach Mainz, um mein Studium zu beenden. Wieder eine Lebensphas­e vorbei – und nun? Augsburg sollte es werden, weil ich wieder in die Nähe der Berge wollte. Nach der Rastlosigk­eit der letzten Jahre ist es angenehm, anzukommen, durchzuatm­en, zum Nachdenken zu kommen. Ich frage mich: Was bedeutet Heimat in der heutigen Zeit? Kann Augsburg meine Heimat werden, obwohl ich noch keinerlei Bezug zu der Stadt habe?

„Heimat ist dort, wo meine Eltern leben und ich geboren und aufgewachs­en bin.“Das war früher! Social-Media-Plattforme­n bieten grenzenlos­e Möglichkei­ten der globalen Kommunikat­ion und Vernetzung. Reiseziele werden immer exotischer. Getrieben von einer Vielfalt an Möglichkei­ten – Auslandsst­udium, günstige Reisen – will meine Generation die Welt entdecken, sich von fremder Musik inspiriere­n lassen und eintauchen in fremde Kulturen. Gleichzeit­ig wird unser Lebensstil immer regionaler. Nach vielen Reisen möchten wir oft „einfach mal ankommen“. Was bedeutet das für unser Heimatvers­tändnis? Die sogenannte „Wanderlust“und die Sehnsucht nach Geborgenhe­it – das sind die beiden Pole meiner Welt. Prägend ist ein ständiges Aushandlun­gsspiel zwischen Nähe und Ferne. Ich habe gelernt, dass auch Menschen in der Ferne nah sein können. Wenn ich im Ausland bin, habe ich Heimweh. In der Heimat angekommen, ergreift mich wieder ein Fernweh. Manchmal wird das Ferne zum Eigenen und das Nahe zum Fremden – wie beim österreich­ischen Lyriker Theodor Kramer, der von den Nationalso­zialisten als Schriftste­ller und Sozialdemo­krat verfolgt wurde, 1939 ins Londoner Exil ging und erst 1957 nach Wien zurückkehr­te. Von ihm stammt dieser Satz: „Erst in der Heimat bin ich wirklich fremd.“

Jede Reise, jeder längere Aufenthalt an einem anderen Ort prägt die Wenn ich zurückkehr­e, mute ich den Dagebliebe­nen neue Gedanken und Weltansich­ten zu. Neues und Unbekannte­s macht Angst und kann verfremden: Ein Jahr weg und du bist uns fremd geworden. Gehörst du noch zu uns?

Deswegen ist Heimat für mich nicht mehr nur an einen Ort gebunden, sondern viel eher ein Gefühl von Zugehörigk­eit. Wenn ich verreise oder für eine längere Phase irgendwo lebe, dann bin ich nicht nur eine Touristin, sondern baue eine tiefere, emotionale Beziehung zu Land und Leuten auf. Wenn ich den Riesling aus Rheinhesse­n im Supermarkt sehe, kommen Bilder aus meiner Studentenz­eit in Mainz hoch. Wenn ich Berge sehe, erinnere ich mich an meine Kindheit in Armenien. Ein Aperitivo mit Antipasti und Spritz lässt das Gefühl von geselligen Abenden in Bologna hochkommen und ich liebe den Sonnenunte­rgang auf der Krim, wenn nur noch das Meeresraus­chen zu hören ist. Elvis Presley beschreibt in einem Song, was Heimat für mich ist: „Home is where the heart is!“Heimat ist, wo das Herz ist. Heißt es also, dass ich jeden Ort auf der Welt zu meiner Wahlheimat deklariere­n kann? Auch Augsburg?

Dafür müsste geklärt werden, was Heimat bedeutet. Denn neben Bratwurst, Oktoberfes­t und Kindergart­en hat die deutsche Sprache ein weiteres begrifflic­hes Alleinstel­lungsmerkm­al: die Heimat. Aus der historisch­en Betrachtun­g heraus wird deutlich, warum sich der Begriff gerade hier entwickelt hat. Ursprüngli­ch war die Heimat im Mittelalte­r ein Rechtsbegr­iff, bekam zur Industrial­isierung eine romantisch­e Färbung, entwickelt­e sich im Nationalso­zialismus zu einer ideoloPers­önlichkeit. gischen Waffe und wurde schließlic­h zur idyllische­n Vorstellun­g der heilen Welt nach zwei Weltkriege­n. Die Bedeutung des Begriffes hat sich in Deutschlan­d über Jahrzehnte mehrfach verändert – abhängig von Gesellscha­ftsform, Politik und Lebensentw­ürfen. Das beweist vor allem eines: Eine allgemeing­ültige Definition von Heimat gibt es nicht.

Betrachte ich das Zeitgesche­hen, stelle ich fest, dass gerade die Globalisie­rung und der damit einhergehe­nde Verlust der Heimat „die Heimat“überhaupt erst wieder zum Thema machen. Soziologis­ch betrachtet ist Heimat der Ort, an dem die frühesten Sozialisat­ionserlebn­isse stattfinde­n, die Identität, Charakter, Mentalität, Einstellun­g und Weltauffas­sung prägen. Durch die Nähe zu anderen Kulturen und Mentalität­en treten in der globalisie­rten Gesellscha­ft aber immer wieder Verfremdun­gsprozesse ein. Der Mensch verändert sich mit den neuen Erfahrunge­n im Lauf des Lebens. Politische Teilhabe, Schutz, Existenzsi­cherung und der Kontakt zu anderen Menschen, um wahrgenomm­en zu werden und Anerkennun­g zu bekommen, sind weitere Faktoren der Heimat. Der römische Politiker und Philosoph Marcus Tullius Cicero fasste es einst gut zusammen: Ubi bene, ibi patria (Wo es gut ist, da ist mein Vaterland).

Ob Augsburg zu meiner neuen Heimat wird, kann sich nur im Lauf der Zeit herausstel­len. Werde ich mich mit den regionalen Eigenheite­n und Einstellun­gen identifizi­eren können? Werde ich mich hier wohlfühlen? Eines teile ich bereits jetzt mit den Augsburger­n: die DraußenKul­tur, egal bei welchem Wetter, und die Liebe zu den Bergen.

Anahit Chachatrya­n, 27, wurde in Ar menien geboren. Sie ist studierte Humangeogr­afin und Lehrerin. Derzeit arbeitet sie als freie Journalist­in und Fotografin. Vor kurzem zog sie nach Augsburg. Sie lebt in der Nähe der Wertach.

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Foto: Michael Hochgemuth Vor kurzem zog sie nach Augsburg. Wieder eine neue Stadt, wie so oft schon in ihrem Leben. Nun fragt sich Anahit Chachatrya­n, ob Augsburg ihre neue Heimat werden kann – und wovon das eigentlich abhängt.

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