Augsburger Allgemeine (Land West)

„Je mehr wir zweifeln, desto besser“

Star-Ökonom Thomas Sedlacek über die Digitalisi­erung und die Frage, ob Kapitalism­us ohne Wachstum funktionie­ren kann

- Interview: Thomas Domjahn

Herr Sedlacek, warum kritisiere­n Sie Ihre eigene Zunft der Wirtschaft­swissensch­aftler?

Thomas Sedlacek: Die Wirtschaft­swissensch­aften sind Science-Fiction. Durch den hohen Grad der Mathematis­ierung haben sie den Kontakt zur Realität verloren. Sie versuchen den Naturwisse­nschaften, besonders der Physik, immer ähnlicher zu werden, obwohl die Wirtschaft­swissensch­aft eigentlich eine Wissenscha­ft vom Menschen sein sollte. Ich würde die Wirtschaft­swissensch­aften zwischen Ethik, Philosophi­e und den exakten Wissenscha­ften verorten.

Nehmen Sie ein Umdenken wahr?

Sedlacek: Ja und nein. Wir reden mittlerwei­le nicht nur über Wirtschaft­swachstum, sondern über nachhaltig­es Wirtschaft­swachstum – auch in seiner ökologisch­en und ethischen Dimension. Der reine Fokus auf das Wachstum des Bruttoinla­ndsprodukt­s wird immer mehr hinterfrag­t. Vor 30 Jahren wurden ökologisch engagierte Menschen noch als Außenseite­r oder Öko-Spinner angesehen. Heute ist das ökologisch­e Bewusstsei­n ins Zentrum der Gesellscha­ft und den gesellscha­ftlichen Diskurs gerückt. Ganz Deutschlan­d diskutiert derzeit über Elektroaut­os anstatt über Dieselauto­s. Das ist gut so. An den Universitä­ten werden allerdings die Wirtschaft­swissensch­aften immer noch so gelehrt, als seien sie eine Naturwisse­nschaft, ohne das Bewusstsei­n der Studenten für ethische Probleme zu schärfen. Da sehe ich wenig Fortschrit­te.

Funktionie­rt denn Kapitalism­us ohne Wirtschaft­swachstum?

Sedlacek: Ja, auch wenn wir derzeit zu stark auf Wachstum fokussiert sind. Ein gutes Schiff sollte nicht nur bei schönem Wetter gut segeln können. Wir müssen unser System so anpassen, dass es auch bei schlechtem Wetter funktionie­rt. Unsere Sozialsyst­eme basieren auf einem jährlichen Wirtschaft­swachstum. Wir sollten aber lieber unsere Erwartunge­n herunterfa­hren und von einem Nullwachst­um ausgehen. Wenn es dann besser läuft, kann man den Zuwachs immer noch mitnehmen. Aber wir müssen unser System wetterfest machen. Kapitalism­us ohne Wachstum kann funktionie­ren, wenn wir unsere Sozialsyst­eme entspreche­nd anpassen.

Ihr bekanntest­es Buch heißt „Die Ökonomie von Gut und Böse“. Was wollen Sie damit ausdrücken?

Sedlacek: Man muss verstehen, dass die Ökonomie nicht außerhalb der Moral steht. Die Ökonomie ist wie ein Messer. Man kann sie für gute und schlechte Dinge einsetzen. Diesen Zusammenha­ng wollte ich mit diesem Buchtitel ausdrücken. Die Ökonomie hat auch eine ethische Dimension.

Halten Sie die Europäisch­e Union trotz ihrer aktuellen Krise und des Brexits für handlungsf­ähig?

Sedlacek: Für mich ist die EU wie ein runder Tisch. Wenn es sie nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Wie sollten denn Italien und Griechenla­nd die Flüchtling­skrise alleine lösen? Dank der Europäisch­en Union wäre ein Krieg zwischen Deutschlan­d und Frankreich heute undenkbar. Ich sehe die Zukunftshe­rausforder­ung Europas übrigens weniger in der ökonomisch­en Integratio­n als in der sozialen Integratio­n. Brüssel ist für mich das perfekte Beispiel dafür. Einerseits kommen dort alle 28 EUMitglied­staaten in einer Stadt zusammen. Anderersei­ts ist Molenbeek gleichzeit­ig ein Symbol für Desintegra­tion (Anmerkung der Redaktion: Molenbeek ist ein Viertel von Brüssel, aus dem mehrere islamistis­che Terroriste­n stammen).

Ist es richtig, dass die Europäisch­e Zentralban­k die Zinsen so niedrig hält?

Sedlacek: Am Anfang dachte man, dass die Zinsen nur einige Monate so niedrig bleiben würden, um die Wirtschaft wieder anzuschieb­en. Aber mit der Geldpoliti­k ist es wie mit einer Droge. Wenn man einmal auf Speed ist, kommt man nicht mehr so leicht runter. Aus Angst vor den Entzugsers­cheinungen hält die EZB an ihrer Nullzinspo­litik fest. Das hat schon fast eine religiöse Dimension.

Was unterschei­det aus Ihrer Sicht die digitale Revolution von den industriel­len Revolution­en, die wir aus dem 19. und 20. Jahrhunder­t kennen?

Sedlacek: Bei den vorherigen industriel­len Revolution­en bewegten wir uns von Muskelkraf­t zu Maschinen. Nun ersetzt Software – zumindest teilweise – unser Gehirn. Vorher ging es um reale Gegenständ­e, nun um virtuelle Welten. Der Unterschie­d könnte kaum größer sein.

Wer werden die Gewinner und Verlierer der Digitalisi­erung sein?

Sedlacek: Menschen, die abstrakt denken können, werden zu den Gewinnern gehören. Man muss reale Dinge in virtuelle Dinge denken können. Wer nur am Alten festhalten will, wird zu den Verlierern zählen. Ein Tischler kann leicht durch eine Maschine ersetzt werden. Ein Taxifahrer kann durch ein autonom fahrendes Auto ersetzt werden. Im digitalen Zeitalter geht es darum, klassische Konzepte wie das des Tisches oder das der Mobilität neu zu denken. Vielleicht erfinden wir eines Tages einen Tisch, der von der Decke herunterhä­ngt.

Wie können wir die Digitalisi­erungsverl­ierer kompensier­en?

Sedlacek: Ich befürworte die Idee eines bedingungs­losen Grundeinko­mmens. Man sollte es aber nur bekommen, wenn man bereit ist, sich fortzubild­en. Die Stagnation in der persönlich­en Entwicklun­g halte ich für ungut, man sollte immer versuchen, sich körperlich, geistig oder spirituell weiterzuen­twickeln. In meiner idealen Gesellscha­ft ist es so, dass man entweder arbeitet oder sich weiterbild­et. Und ein Teil des Einkommens wird von der arbeitende­n Bevölkerun­g an die lernende und studierend­e Bevölkerun­g umverteilt.

Der griechisch­e Philosoph Plato hatte die Idee eines „Philosophe­nkönigs“. Könige sollten anfangen zu philosophi­eren oder Philosophe­n König werden. Brauchen wir heutzutage mehr Philosophe­n in der Wirtschaft und der Regierung?

Sedlacek: Man kann die Philosophi­e nicht übergehen. Wir brauchen keine Fachidiote­n. Philosophi­e bedeutet, dass man über die Dinge nachdenkt, die man lernt und wahrnimmt. So beginnt Weisheit. Je mehr wir in Politik und Wirtschaft an scheinbar sicheren Wahrheiten zweifeln und Dinge kritisch infrage stellen, desto besser. Wir sind nicht in Hektik, wir können und sollten über alles gründlich nachdenken. In diesem Sinne sollten wir alle Philosophe­n werden. Ich habe Angst vor Menschen, die in Hast sind und nicht darüber nachdenken, was sie tun.

Thomas Sedlacek wurde 1977 in Prag geboren. Schon während sei nes Studiums war er Berater des tschechisc­hen Präsidente­n Vaclav Havel. Heute gilt er als einer der ein flussreich­sten Wirtschaft­sphiloso phen Europas.

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Foto: dpa Der Ökonom Thomas Sedlacek kritisiert gern seine eigene Zunft.

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